Weiskerns Nachlass
Der Protagonist des Romans unterrichtet an der Leipziger Universität Kulturwissenschaft. Er hat seinen 59. Geburtstag eher etwas lustlos "über sich ergehen lassen". Überhaupt steckt der Akademiker Rüdiger Stolzenburg in einer tiefen Lebens- und Sinnkrise, weil er alle seine beruflichen und auch menschlichen Ideale als degradiert und wertlos erlebt. Es ist dabei nicht nur die in seinem Alter "normale" Konfrontation mit den Jüngeren, Erfolgreicheren, in jeder Hinsicht Potenteren, die dem Protagonisten das Leben so schwer macht. Es ist vor allem die Erfahrung, dass in der (deutschen) Gegenwartsgesellschaft scheinbar nur noch derjenige erfolgreich sein kann, der sein Geld schnell und extrem risikoreich etwa über Börsen- und Immobilienspekulationen erwirbt. Wer da zum Beispiel über einen heute vergessenen Librettisten aus der Mozart-Zeit forscht, hat eigentlich keine Chance mehr im täglichen Überlebenskampf. Mit diesem Roman konfrontiert Christoph Hein seine Leser mit der oft bitteren Lebenssituation einer Generation von Akademikern, deren durch ein langes Studium und später dann Forscherleben erworbene Qualifikationen keinerlei Wert mehr besitzen. Die Universitäten werden einzig nach wirtschaftlichen Effizienzkriterien radikal umgebaut. Die Geisteswissenschaften besitzen kaum noch einen Wert und die Medien, als weitere mögliche Einnahmequellen für Akademiker, interessieren sich nur noch für Einschaltquoten oder schnell hochgepuschte Auflagen. Alles andere wird zu Müll, zu "Lebensmüll", wie es der Protagonist des Romans schmerzhaft an sich selber beobachtet. Die Sinnkrise des Rüdiger Stolzenburg hat nicht nur individuelle Ursachen, sondern in ihr spiegelt sich eine tiefe Wertekrise unserer Gesellschaft. Lesenswert.
Carl Wilhelm Macke
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Weiskerns Nachlass
Christoph Hein
Suhrkamp (2011)
318 S.
fest geb.