Geschichte eines Kindes
Mit einem Stipendium verbringt Franziska ein Semester in Wisconsin, wo sie bei Joan zur Miete unterkommt. Diese spricht Franziska auf ihre augenfällig asiatischen Wurzeln an, erzählt von ihrem Mann im Pflegeheim und erhofft von Franziska Hilfe. Der
Ehemann, Daniel, ist als Kind einer weißen Amerikanerin und eines afroamerikanischen Vaters, den die Mutter verheimlichte, nach der Geburt zur Adoption freigegeben worden. Ein zweiter Erzählstrang zitiert aus der Akte der Sozialarbeiterin Marlene Winckler aus dem Jahr 1953, die keine Mühen scheut, um die Identität des Vaters herauszubekommen, da sie ein Kind nur in einer Familie gleicher rassischer Herkunft gut aufgehoben wähnt. Der Knabe wächst so über Monate ohne Mutterliebe und Zugehörigkeit auf. Die Akten schildern nüchtern und erschreckend, wie ein Kind zum Objekt entwürdigt und damit der Boden gelegt wird, der keine persönliche Identität mehr ermöglicht. Ständig auf der Suche nach sich und seinen Eltern endet der erwachsene Daniel entleert im Pflegeheim. Joan versucht durch und mit Franziska die Frage nach seiner Herkunft zu klären. Franziska sträubt sich dagegen, berührt es doch ihre eigene Lebensgeschichte zu sehr, da sie ihre koreanische Herkunft zu verdrängen versucht. Im heimatlichen Wien trifft Franziska auf eine Frau, deren Mutter Marlene Winckler war, und bekommt Einsicht in alle Akten. Hier laufen alle Erzählstränge zusammen und das Konstrukt des Romans verdichtet sich in Daniels, Franziskas und Marlene Wincklers Geschichte auf das Mutterbild, die Identitätsfrage und die Rassendiskriminierung. Das Verweben verschiedener Lebensgeschichten mit unterschiedlicher Sprache, die Protokoll und Erzählung umfassen, erzeugt eine Tiefe, die Sachinformation und Fabel vereint. Wenn Anna Kim ihre Figur Franziska in den Spiegel schauen lässt und dort nicht das sieht, was sie als sich empfindet, dann keimt eine Ahnung, welcher Zumutung Menschen ausgesetzt sind, denen keine eigene, gleichwertige Identität zugestanden wird.
Christine Vornehm
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.

Geschichte eines Kindes
Anna Kim
Suhrkamp (2022)
221 Seiten
fest geb.
Auszeichnung: Roman des Monats