Offen verschlossen offen
Erstaunlich, wie wenig bekannt in Deutschland dieser 1924 in Würzburg geborene und im Jahr 2000 in Jerusalem gestorbene Schriftsteller ist. Erstaunlich, weil in seinen Gedichten und Erzählungen die so dramatische jüngere Geschichte von Juden in Deutschland immer so stark präsent ist. In Israel hingegen hatte (und hat) Jehuda Amichai ein auch über den engeren Kreis von Lyrik-Liebhabern hinausgehendes großes Lesepublikum. Bewundernswert, wie leicht Amichai von biographischen Erinnerungsgedichten an seine Kindheit ("Als ich Kind war", "Meine Mutter buk mir die ganze Welt") zu philosophisch grundierten Gedanken springen kann. Da erschließt sich auch der auf dem ersten Blick nicht sofort verständliche Titel der Gedichtsammlung "Offen, verschlossen, offen". "Hier verliert", so liest man es in dem klugen Nachwort, "der traditionelle religiöse Glaube seine alte Kraft und zersplittert in ein Leben voller Zweifel und Ironie". Typisch hier ein kurzes Gedicht mit dem Titel "Erscheinung": "Heute erschien mir Gott so:/ jemand hielt mir von hinten die Augen zu./ Mit seinen Handflächen./ Rat mal, wer". Gerade weil er so tief verwurzelt ist im jüdischen Glauben und sich auch der schmerzhaften Verletzungen jüdischer Kultur gerade in seiner Geburtsheimat Deutschland bewusst ist, schafft er es in den besten Gedichten, mit diesem Glauben ironisch zu spielen. Er gibt den Zweifelnden und den Verzweifelten eine Stimme. Vielleicht war und ist Amichai deshalb so beliebt in Israel. Hoffentlich trägt diese Sammlung dazu bei, dass er auch endlich im deutschsprachigen Raum bekannter wird.
Carl Wilhelm Macke
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Offen verschlossen offen
Jehuda Amichai ; ausgewählt und mit einem Vorwort von Ariel Hirschfeld ; aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer und anderen ; mit fünf Gedichten Hebräisch und Deutsch
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag (2020)
155 Seiten
fest geb.