Der Papierjunge
Wie es um 1900 in dem galizischen Städtchen Stanislau, das heute zur Westukraine gehört, zuging, wird überaus plastisch und detailliert in dem alltagsgeschichtlich, aber auch psychologisch interessanten Debütroman der jungen ukrainischen Schriftstellerin
(geb. 1982) beschrieben. Hier leben zwei junge Frauen, die verwöhnte Adelja, Tochter eines einflussreichen Arztes, und Stefa, ein Waisenkind, das eben dieser Arzt als Ziehtochter in seinem Haus aufgenommen hatte. Beide leben in einer symbiotischen, gleichzeitig hochgradig pathologischen Beziehung "wie zwei Bäume, deren Stämme miteinander verwachsen sind" (S. 152). Adelja, physisch und psychisch in hohem Maße unselbständig, maßlos egozentrisch und unfähig, alleine zu sein, braucht und genießt die devote Unterwürfigkeit ihrer "Dienstmädchen-Schwester". Stefa wiederum leidet, verzichtet sogar auf eine Liebesbeziehung und eine eigene Familie, genießt ihren Status aber auch in masochistischer Selbstverleugnung. Durch religiös und gesellschaftlich motivierte Rationalisierungsanstrengung vermag sie ihr Verhalten bis zum dramatischen Schluss mühsam zu rechtfertigen: "Dient man dem Menschen, dient man Gott." (S. 247). Allein aus dem eingeschränkten Blickwinkel Stefas als Kind und junge Frau - und mit ihren Worten - wird erzählt. Während zunächst die unglaublich farbige Beschreibung des (weiblichen) Alltagslebens im Vordergrund steht, dominiert in der zweiten Hälfte des Romans die Schilderung der schicksalhaften Verstrickung der beiden Frauen. Ein lesenswerter, viel beachteter, sozialgeschichtlich interessanter Roman. (Übers.: Maria Weissenböck)
Helmer Passon
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Der Papierjunge
Sofia Andruchowytsch
Residenz-Verl. (2016)
306 S.
fest geb.