Goethe
Bei einem Dichter von der Größe Goethes helfen Reduktion und Routine wenig. Deshalb packt es Thomas Steinfeld groß an: umfassend ist seine Biografie des Dichters und gewaltig die Masse an Büchern von und über Goethe, die er gelesen hat. Herausgekommen
ist ein Porträt, das sich in jedem einzelnen Kapitel zu lesen lohnt, weil der Biograf keine Lebensbeschreibungen nachbetet, sondern vielerorts neue Zusammenhänge erschließt und auch den Dichter mitsamt seinen mephistophelischen Zweifeln an Gott und der Welt ernst nimmt. Offenbart wird auf diese Art ein Autor, dem seine eigene Größe unter den Zeitgenossen suspekt war; ein unermüdlicher Pläneschmied und Probierkünstler in seinen literarischen und auch den naturforschenden Schriften, nur nicht in der Lyrik. Mit einem Blick zum Publikum, den Goethe manchmal mied, stellt Thomas Steinfeld spannende Fragen: Warum wurde dem Autor der Bestsellererfolg des „Werther“-Romans so leidig? Wie stand Goethe in Weimar die „Weltrolle“ zu Gesicht? Wie richtete er sich dort, in der Ackerbürgerstadt und geistigen Welthauptstadt, häuslich ein und wozu heiratete er, anders als sein Freund Schiller, nach unten? Weshalb ist sein Mephisto so „verteufelt human“? Wohin flüchtete er vor Revolutionen, Kriegen und Todesfällen? Und was ihm gegen den raschen Erfahrungswandel half: das Diktieren, sogar von Briefen. Steinfeld porträtiert einen Goethe, der manche Probleme und Sinnfragen der Moderne zu erfassen vermochte: einen Autor für heute. Ein vorzüglich geschriebenes, erhellendes und bereicherndes Buch, aus dem einzelne Kapitel sich sehr gut zur Einführung in einzelne Werke oder kürzere Zeitabschnitte der klassischen Literatur eignen, eine Einladung für Lesekreise und ein Muss für alle größeren Bestände.
Michael Braun
rezensiert für den Borromäusverein.

Goethe
Thomas Steinfeld
Rowohlt Berlin (2024)
782 Seiten : Illustrationen
fest geb.