Quecksilberlicht

Das Lesen sei dem Schreiben vorzuziehen, hat der österreichische Schriftsteller Thomas Stangl in einem NZZ-Essay am 21.3.2017 geschrieben, weil es entsagender, diskreter, vernünftiger sei. In seinem jüngsten Roman nimmt er sich beim Wort und schreibt Quecksilberlicht über sein Lesen in ganz spezieller Weise: Wie kann man Sterben und Tod lesen? "Quecksilberlicht" erzählt von dieser Grenzerfahrung im Lesen von drei Figuren, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Da ist zum einen die Großmutter des Autors, aufgewachsen im XI. Bezirk von Wien, zwischen Viehmarkt, Gaswerk und Zentralfriedhof, eine Figur, die er nicht gekannt hat und von der aus die Fäden sich nach rechts und links in die Familiengeschichte ziehen, in die kommunistische und in die nationalsozialistische Bewegung. Zum anderen ist da der erste chinesische Kaiser Qin Shihuangdi, der sein Leben durch die Einnahme von Quecksilber zu verlängern suchte, der sich schon von Kindauf ein Mausoleum errichten ließ, die Große Mauer baute und danach trachtete, durch Bücherverbrennung das Gedächtnis der Vergangenheit auszulöschen. Und da sind sodann die Brontë-Schwestern samt künstlerisch erfolglosem Bruder, englische Schriftstellerinnen aus dem 19. Jh. Ein Erzähler-Ich steuert die Gedanken über den Abschied vom Leben und das, was bleibt, navigiert zwischen Leben und Schreiben, dem eigenen und dem fremden. Ein waghalsiges Unterfangen ist das, und nicht immer ist sofort klar, aus welchem Leben nun eigentlich erzählt wird, aber gerade aus der Konstellation aufgesammelter und erfundener Geschichten gewinnt Stangls Buch seinen Reiz. Ein Roman über Scham und Scheitern, über Leben und Tod, von beiden Seiten her gelesen, eindringlich, eingängig und anspruchsvoll, sehr zu empfehlen.

Michael Braun

Michael Braun

rezensiert für den Borromäusverein.

Quecksilberlicht

Quecksilberlicht

Thomas Stangl
Matthes & Seitz Berlin (2022)

267 Seiten
fest geb.

MedienNr.: 612307
ISBN 978-3-7518-0084-6
9783751800846
ca. 25,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
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