Keine Heiligen
Es ist nicht so einfach, aber unbedingt lohnend, in die Erzählungen der 1989 in Oslo geborenen Roskva Koritzinsky hineinzukommen. „Keine Heiligen“ ist ihr drittes Buch. Die Geschichten darin kreisen um Menschen, die etwas suchen, was sie in anderen Menschen zu finden hoffen. Das kann die Sehnsucht nach einer fernen Kindheit und Schulzeit sein, eine Trauerarbeitshilfe, ein Zeitgewinn beim Kampf um Liebe, die Annäherung an ein Wunder. Doch aus der Vergangenheit kommen keine Wahrheiten. Allenfalls gelingt ein bruchstückhaftes Verstehen, ein ansatzweises Lernen aus dem Gestern für das Heute. Inez, die Protagonistin in der ersten Erzählung, die auch in einer anderen Geschichte („Reiher, Lilien“) wiederkehrt, lernen wir kennen, wenn sie Friedhöfe, junge Mädchen und ihre vermodernden Kleider betrachtet. Und Bilder ihres verschollenen kleinen Bruders Martin. Der war nach Stationen bei Pflegeeltern in frühen Jahren ein genialer Architekt und befreite sich von einem Schwindelvorwurf durch Zeichnungen eines städtischen Jugendheims, auf die Inez einen eher künstlerischen als baulichen Blick wirft. Die Geschichten sind in diesem Sinne kunstfertig erzählt, still und klar im Stil, eindringlich bis zum Selbstzweifel. In ihrer Kürze und Prägnanz sind sie das novellistische Gegenstück zu den Romanen von Karl Ove Knausgård. Lohnende Lektüre.
Michael Braun
rezensiert für den Borromäusverein.
Keine Heiligen
Roskva Koritzinsky ; aus dem Norwegischen von Andreas Donat
Karl Rauch Verlag (2023)
113 Seiten : Illustration
fest geb.