Kaleidoskop
Goethes Werther nahm sich das Leben, weil er es mit Religion, Kunst, Liebe verwechselte. Unter den Nachfolgern ist nun auch der kleine Briefroman „Kaleidoskop“ von Elias Münzing, der selbstständig als Arzt in Süddeutschland arbeitet. Erzählt wird da in den Briefen, die der Vater Hermann K. hinterlassen hat, von dessen wechselvollem und schwankendem Leben, dem er selbst ein Ende gesetzt hat. Er hat einen Sohn, den er über alles liebt und dessen Schlaganfall ihn erschüttert. Einer seiner Geliebten ist es wichtiger, mit der Lüge als mit sich allein zu leben, eine andere liebt ihn Herz über Kopf. Hermann K. durchreist die Welt, hat Augen und Ohren für ihre Schönheiten, doch er fürchtet sich vor der Sekunde und kann Glück nicht ertragen, weil es keine Dauer hat. In dieser „süßen Falle“ zwischen Kommen und Gehen erstarrt er. Und auch eine verständige Bibelauslegung hilft ihm nicht wirklich weiter. Aus der Geschichte vom sinkenden Petrus auf dem See (Matthäus 14,22-33) liest er heraus, dass es nicht auf eigene Leistung, sondern auf Gottvertrauen ankommt, fragt aber gleichzeitig, was passieren würde, wenn der Glaube so stark wäre, dass er „einem unsinnigen Selbstmord gleichkäme“. Hermann K.s Briefe zittern zwischen Lebensangst und Menschenliebe, und kein Erzähler steht Münzings Wertherfigur zur Seite. Seine Briefe verweigern den Dank ans Leben. Das überzeugt nur halbwegs, als klarsichtige Diagnose eines Suizidkandidaten, während die erzählerische Amplitude so schwach bleibt wie die Erkenntniskraft der Briefe. Streckenweise lohnende Lektüre.
Michael Braun
rezensiert für den Borromäusverein.
Kaleidoskop
Elias Münzing
Stieglitz Verlag (2023)
167 Seiten
kt.