Das weinfarbene Meer
Leonardo Sciascia (1921-1989), der große sizilianische Autor, ist ein Geschichtenerzähler par excellence, der es versteht, seine sizilianische Heimat und ihre Bewohner nicht abstrakt und oberflächlich zu verklären, sondern sie durch ganz alltägliche Erlebnisse konkret werden zu lassen, und das mit viel Charme und Poesie. Man nehme als Beispiel die Geschichte "Das weinfarbene Meer", die dem Bändchen seinen Titel gab: Wann haben Sie einmal eine so alltägliche und gleichzeitig so spannende Bahnreise von Rom nach Sizilien mitgemacht? Die Schilderung der Charaktere in der zwanghaften Enge eines Abteils, Urteile und Vorurteile, Verdächtigung und ein bisschen Intrige, die lärmenden Kinder, zart und streitend, die Situationen, in die die Gesellschaft auf der langen Tag- und Nachtreise gerät - man glaubt, dabei zu sein, und amüsiert sich köstlich! Nicht die Reise als solche, also etwa die wechselnde Landschaft, wird breit beschrieben, sondern sein Thema ist das Leben und Verhalten der Menschen auf einer langen Reise und unter den besonderen Umständen in einem Abteil. Das ist eine Perle heutiger Erzählkunst! - Sciascia war der erste italienische Autor, der die Mafia in seinen Büchern thematisierte. Das macht ihn über seine lebensnahe Dichtung hinaus aktuell für jeden, der sich mit dem Leben in Italien heute, besonders aber in Sizilien befasst. Auch kleinere Büchereien könnten mit diesem schönen, sehr gut und flüssig übersetzten Bändchen ihren Bestand abrunden. (Übers.: Sigrid Vagt)
Armin Jetter
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Das weinfarbene Meer
Leonardo Sciascia
Wagenbach (2016)
Salto ; 220
164 S. : Ill.
fest geb.