Blutbuch
Der Urgroßvater pflanzt für jedes seiner Kinder einen Baum in den Garten, für die Großmutter der Erzählfigur eine Blutbuche. Diese wird für das Kind Kim zum Rückzugsort. Unter ihrem Blätterdach versteckt es sich vor der dominanten Großmutter und der Mutter. Oft fühlt es sich unverstanden, warum soll es sich festlegen? Muss mensch männlich oder weiblich sein? - Kim de l’Horizon schickt seine Figur auf Identitätssuche. Die Sprache des Romans ist nicht einheitlich. Während in den ersten beiden Teilen das Kind aus seiner magischen Vorstellungswelt spricht, wird Teil drei im Tonfall eines Raps erzählt. Andere Textstellen lesen sich dokumentarisch. Es sind Biografien der mütterlichen Vorfahrinnen, die bis ins 14. Jh. zurückreichen. Sie handeln von sexueller Ausbeutung und der Schwierigkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Der letzte Teil des Romans enthält Briefe an die Großmutter, die auf Englisch verfasst sind. Bei der Recherche stößt Kim auf zwei Schwestern der Großmutter, eine verschwundene und eine früh verstorbene. Familiäre Traumata werden plötzlich verständlicher. Die pornografischen Passagen des Romans werden manche Leser/-innen abstoßend finden. Nichtsdestotrotz steht der autofiktionale Roman zu Recht auf der Shortlist des deutschen Buchpreises. Das Verschwimmen der Grenzen zwischen den Geschlechtern und zwischen Körpern zeigt das Debüt sowohl inhaltlich als auch formal. Es stellt gängige Vorstellungen provokant in Frage. Kim de l’Horizon bezeichnet sich als nichtbinäre Person. Wer sich für experimentelle Literatur begeistert, wird den Roman mit Gewinn lesen. Dennoch kein Buch für jede Bücherei.
Susanne Emschermann
rezensiert für den Borromäusverein.
Blutbuch
Kim de l'Horizon
DuMont (2022)
334 Seiten
fest geb.