Regeln des Tanzes
Thomas Stangls dritter Roman beginnt mit einem merkwürdigen Fund. Auf einem ziellosen Streifzug durch Wien entdeckt der alternde, von seiner Frau verlassene Gelehrte Steiner in einer Mauerspalte eine Filmdose. Fotografien mit zwei jungen Frauen führen
ihn aus dem Jahr 2015 in die Nahvergangenheit des Februar 2000. Dort lernen wir jene Frauen auf den Bildern kennen, die zusammenwohnen, aber getrennte Wege gehen. Eine Demonstrantin, die gegen die neue rechtslastige Regierung auf die Straße geht, und ihre introvertierte Schwester Mona, eine Tänzerin, die sich später offenbar mit einer Polizeipistole das Leben nimmt. Hartnäckig, manchmal verzweifelt sucht Steiner nach dem, was geblieben ist, nach Zusammenhängen "zwischen einem Gesicht, einem Grabstein und einem Zimmer". Der Roman, in dem die drei Figurenperspektiven beständig abwechseln, ist praktisch dialoglos, mit langen reflexiven Passagen, die dem Leser ein besonderes Maß an Geduld abverlangen. Es geht um die Frage, welches Verhältnis zum Leben das bessere ist: das recherchierende, das aktiv-engagierte oder das meditative. Vielleicht ist es, so suggerieren die Mona-Geschichten, ja der Tanz, der von der Last der Erinnerung und der Anstrengung des Verstehens am leichtesten befreit, weil er die Regeln der Gesellschaft und der Zeit außer Kraft setzt. Kein einfaches Buch, eine (wie es einmal heißt) nachdenkliche "Deutsch-, eine Tanz-, eine Religions-, eine Geschichtsstunde" aus wechselnden Perspektiven. Größeren Beständen empfohlen. (Nominiert für den Deutschen Buchpreis)
Michael Braun
rezensiert für den Borromäusverein.

Regeln des Tanzes
Thomas Stangl
Literaturverl. Droschl (2013)
278 S.
fest geb.