Der Augenblick
Sechsundzwanzig Frauen aus verschiedensten Alters- und Berufsgruppen und aus den unterschiedlichsten Milieus hat die TAZ-Mitarbeiterin Gabriele Goettle für ihre Reportagen an ihren Arbeitsstätten oder zuhause besucht. Bereitwillig erzählen diese, wie sie sich an Tabuthemen heranwagen, heiße Eisen nicht scheuen und wie sie sich sozial engagieren. Die Journalistin spricht u.a. mit einer Kulturwissenschaftlerin, die sich eingehend mit Organtransplantationen befasst, die sich fragt, ob ein Hirntoter wirklich schon tot ist und ob ihm überhaupt Organe entnommen werden dürfen. Gabriele Goettle interviewt außerdem eine Bäuerin aus dem Wendland, die besorgt ist über Atommülltransporte und nicht vorhandene Endlager. Von einer Rechtsmedizinerin erfährt sie, wie schwer es ist, Kindesmissbrauch nachzuweisen, von einer Beamtin der Arbeitsagentur hört sie, wie seit Einführung von Hartz IV viel mehr Menschen sozial absteigen und eine Betreuerin einer Wohngemeinschaft für Demenzkranke zeigt auf, dass diese Gruppe ohne ruhigstellende Medikamente durchaus noch ein sinnerfülltes Leben haben kann. Gabriele Goettle trifft auf ihren Streifzügen durch den facettenreichen Alltag der in diesem Buch vorgestellten Frauen auf große Lebensklugheit, Mut und Hartnäckigkeit. Respektvoll und unaufdringlich hört sie zu und macht mit ihren Reportagen deutlich, wie die Frauen mit Selbstverständlichkeit ihre Berufe in einer oft noch von Männern dominierten Berufswelt ausüben und wie sie sich jenseits von Rollendenken und Klischees und jenseits allen sozialromantisch veranlagten Weltverbessertums in sämtlichen Bereichen gesellschaftlichen Lebens ihren Platz erobert haben. Aufrüttelnd und fesselnd. Sehr empfehlenswert.
Birgit Fromme
rezensiert für den Borromäusverein.
Der Augenblick
Gabriele Goettle
Kunstmann (2012)
395 S.
fest geb.