Eine kurze Kindheit in Agram

Erinnerungen an die eigene Kindheit zu schreiben, gehört zu den beliebtesten Genres in der Literatur. Die Zahl einschlägiger Romane, Erzählungen und biografischen Erinnerungen ist entsprechend unüberschaubar. Dass aber ein Schriftsteller versucht, Eine kurze Kindheit in Agram sich in das Kind hinzuversetzen, das er einmal vor vielen Jahren gewesen ist, ist schon seltener anzutreffen. Marcel Proust und Walter Benjamin sind hier die ganz großen Vorbilder. In deren Tradition stehen auch die Erinnerungen an eine nur kurze Kindheit in Agram von Bora Cosic. So wie auch heute Agram nicht mehr existiert (sein heutiger Name ist Zagreb), so ist auch die Welt, die der Autor hier beschreibt, längst untergegangen. Mit einem sehr großen Einfühlungsvermögen und einer bezaubernd poetischen Sprache versucht der Autor, sich noch einmal als ein kleines Kind zu sehen, das sich mit riesiger Neugierde Schritt für Schritt und Gegenstand für Gegenstand die Welt anzueignen versucht. Wie hat das Kind Bora das Zählen, das Schreiben, die Sprache oder die Bedeutung des Lichts erlernt. "Ich verstehe nicht, wie es sein kann, dass das Tageslicht allmählich verlischt und sich die Welt plötzlich verdunkelt. Wohin verschwindet es, wo versteckt es sich?" Wie entsteht "Lesewut", warum ist die Welt ohne Buchstaben "unvollständig"? - Dem Autor ist hier auf relativ wenigen Seiten eine ganz wunderbare Kindheitserinnerung gelungen, der man eine große Leserschaft wünscht. Der besondere Lektüregenuss wird auch durch die wunderbare Übersetzung ins Deutsche durch Brigitte Döbert vermittelt.

Carl Wilhelm Macke

Carl Wilhelm Macke

rezensiert für den Sankt Michaelsbund.

Eine kurze Kindheit in Agram

Eine kurze Kindheit in Agram

Bora Cosic
Schöffling (2011)

156 S. : zahlr. Ill.
fest geb.

MedienNr.: 356502
ISBN 978-3-89561-585-6
9783895615856
ca. 18,95 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
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