Fremde Blicke
Zunächst sind es nur kleine Merkwürdigkeiten, die der Familie an Lars auffallen, aber bald schon wird klar, dass er eine Psychose entwickelt hat, von der er sich allein nicht befreien kann. Es dauert Monate, bis Lars bereit ist, sich in eine psychiatrische Klinik einweisen zu lassen. Dies ist eine schwere Zeit für die Eltern und die Schwester, eine Zeit, die geprägt ist von Hoffnungen und Rückschlägen, Unsicherheiten und Selbstzweifeln. Eine psychische Erkrankung eines Familienmitglieds betrifft die ganze Familie - davon wird in dieser Graphic Novel sehr anschaulich und auch schonungslos erzählt. Die Geschichte vollzieht sich aus der Perspektive der Angehörigen; mit ihnen erleben die Leser/-innen voller Schrecken die Stimmungsschwankungen, Angst- und Wahnzustände des Sohnes, aber auch das Mitleiden, die Hilflosigkeit und die Selbstvorwürfe. Wie die Krankheit auch die Wahrnehmung verändert, wurde zeichnerisch mit Bravour dargestellt. Die luftigen, farbenfrohen Aquarelle zeigen die "Verankerung" im Alltag, in den nach und nach nervöse und aggressive Lineaturen einbrechen. Sie bezeugen die Störungen und Verwundungen, denen alle Figuren ausgesetzt sind und die sich auf die Betrachter/-innen übertragen. Dieses Prinzip setzt sich im Lettering fort: erzählt wird in handschriftlich gesetzten Dialogen, in die die Ausbrüche von Lars in expressiven Krakeln eindringen. Auch die spätere Gesundung wird in den labilen Liniengeflechten deutlich, die sich erst allmählich zu einem Bild der Welt formen. Diese außergewöhnlich kluge Gestaltung wird dem schweren Thema gerecht. Der Anhang führt eine Liste vieler Hilfsangebote für Betroffene und deren Angehörige auf. Aber nicht nur ihnen sei dieses Buch empfohlen; alle Leser/-innen werden aus dieser Lektüre bereichert an Verständnis und Empathie hervorgehen.
Dominique Moldehn
rezensiert für den Borromäusverein.
Fremde Blicke
Cynthia Häfliger
KUNSTANST!FTER (2022)
[unpaginiert] : farbig
fest geb.