Der große Reset
Coronazeit. Eine junge Frau sitzt mit Maske im ICE. In Bad Kaffheim steigt sie aus. Ika besucht ihre Familie. Die Schwester holt sie mit dem Auto am Bahnhof ab. Ansichten von Innen und Außen wechseln sich ab: Weinberge, Windmühlen, Unmengen kullernder Energy Drink-Dosen, eine Dufttanne am Rückspiegel, all diese Elemente skizzieren die Stimmung des Schauplatzes. Kaum angekommen, fragt Ika nach dem Vater. Kein Thema, über das die Schwester Lust hat zu sprechen. Aber diese Fragen beschäftigen sie eigentlich beide: wird er es dieses Mal durchziehen? Hat er das Haus, in dem die Familie - Mutter, Schwester, Vater und Hund - noch leben, tatsächlich schon verkauft? Der Leser fragt sich am Anfang noch, was los ist. Aber schnell wird klar, dass der Vater sich „im Internet verloren“ hat. Verschwörungstheorien haben eine immer größer werdende Kluft zwischen ihm und dem Rest der Familie entstehen lassen. Die Vaterfigur als zentrale Figur der Graphic Novel wird in keiner Weise verständlich im Laufe der Geschichte, sie bleibt für immer unbegreiflich. Wortwörtlich ungreifbar: Die Zeichnerin lässt den Vater durchgehend massenförmig erscheinen, sodass er keine menschlichen Konturen mehr besitzt. Bemerkenswert ist, dass die Graphic Novel komplett analog mit Bleistift und Wasserfarben gestaltet ist - möglicherweise als Pendant zum in der digitalen Welt verlorenen Vater. Die Kompositionen von Ika Sperling leiten die grafische Erzählung. Standard-Comic-Kästchen, doppelseitige Bilder, weiße Seiten und kurze filmartige Sequenzen wechseln sich ab, um Spannung aufzubauen. Mal wird es laut, mal leise oder ganz still. Die Emotionalität ihres Sujets wird ästhetisch spürbar, auch gerne durch Metaphern wie auf dem Cover. Ein starkes Debüt.
Elsa Namy
rezensiert für den Borromäusverein.
Der große Reset
Ika Sperling
Reprodukt (2024)
170 Seiten : farbig
fest geb.