Rosenstengel

Viel, beinahe allzu viel - und in uns Heutigen kaum mehr geläufigem Deutsch - ist in diesem virtuellen Briefroman der Kölner Literaturwissenschaftlerin, die dafür den Bayerischen Buchpreis 2015 davontrug, zu lernen: über das traurige Schicksal Rosenstengel des vor Homoerotik glühenden Märchenkönigs Ludwig II., über eine gut anderthalb Jahrhunderte früher im erz-pietistischen Sachsen aufgetauchte Transsexuelle, die sich, wo es ging, in Männerkleidern zeigte und sogar verehelichte, Anastasius Rosenstengel genannt haben soll und dazu über einen historisch unverbürgten Leibarzt des Ludwig-Bruders Otto namens Franz Carl Müller. Für den engelhaft schönen Wagner-Gegner schwärmt bei Steidele der bauwütige Ludwig vergeblich. Die beiden letzten Lebensjahre erstehen (ohne die Todesumstände zu klären) vor den Augen des einigermaßen geplagten Lesers in Form glühender Brief-Verbalismen. Zwei Lebens-Schicksale aus zwei Jahrhunderten werden, kunstvoll auf der Folie zweifelsfrei hoher historischer Gelehrsamkeit verbunden und durch ihre "conträren" Sexualdispositionen verknüpft. Der zweifarbige Druck lässt den Leser beide tragischen "Geschichten" mühelos unterscheiden. In die von Ludwig darf Cousine "Sisi" mit ihrer witzig-temperamentvoll-poesieehrgeizigen und unverblümten Art erfrischend eingreifen. Weder Irrenärzte (insonderheit Dr. von Gudden) noch Regierende, Kirchenvertreter oder Pietisten rund um August Hermann Francke kommen bei Steidele gut weg. - Für Leser mit langem Atem und Sinn für verschlüsselte historische (Halb-)Wahrheiten ein Vergnügen.

Hans Gärtner

Hans Gärtner

rezensiert für den Sankt Michaelsbund.

Rosenstengel

Rosenstengel

Angela Steidele
Matthes & Seitz (2015)

383 S. : Kt.
fest geb.

MedienNr.: 804827
ISBN 978-3-95757-136-6
9783957571366
ca. 28,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
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