Der silberne Elefant
Lynn hat Krebs im Endstadium. Zu ihrer Entlastung will ihr frömmlerischer Sohn seine Verlobte Vera zu ihr schicken. Die zwei Frauen kommen nicht miteinander klar, sodass die Familie auf einen Pflegedienst ausweicht. Der schickt Emily, eine Zwanzigjährige, die die Gräuel und Massaker in Ruanda überlebt, aber keineswegs verarbeitet hat. Ganz langsam fasst Emily Vertrauen zur immer schwächer werdenden Lynn und erzählt in großen Sprüngen und mit vielen Unterbrechungen ihre Lebensgeschichte. Der Leser begleitet sie auch in ihren privaten Alltag mit ihren Ängsten und inneren Fluchten. Gegen Emilys Erfahrungen nimmt sich das frühere Hausfrauendasein von Lynn idyllisch aus, obwohl auch die sich nicht ohne Weiteres in ihre Rolle fand. Vera dagegen quält sich mit Vorwürfen, sie habe ihr Kind ausgesetzt und es sei dabei ums Leben gekommen. Sie fühlt sich umso schuldiger, je mehr sie in die evangelikalen Kreise ihres Verlobten hineingezogen wird. - Das Buch beschreibt den Umgang mit traumatischen Erlebnissen, die auf ganz verschiedenen Ebenen liegen: Verfolgung bis zum Hinschlachten von Menschen, eine massive Fehlentscheidung nach der Geburt eines unerwünschten Kindes und der Verzicht auf einen selbstbestimmten Lebensweg. Auf ihre Art schafft es jede der drei Frauen, sich mit der eigenen Geschichte auszusöhnen und ihre Vergangenheit zu bewältigen. Das Besondere an dieser Romanstruktur ist, dass der Fokus nicht allein auf eine Hauptperson und ihr Schicksal gerichtet ist, sondern die Handlungsstränge ineinanderfließen und wechselseitig beeinflusst werden. Das vermittelt den Eindruck, dass tragische Lebensgeschichten nicht isoliert stehen, sondern sich - auch in unserem Alltag - hinter unauffälligen Menschen verbergen.
Pauline Lindner
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Der silberne Elefant
Jemma Wayne ; aus dem Englischen von Ursula C. Sturm
Eisele (2021)
429 Seiten
fest geb.