Kleine Lyrik-Inventur
Am 21. Januar 2021 eroberte ein Gedicht die Welt. Die 22-jährige Afroamerikanerin Amanda Gorman las „The Hill We Climb“ bei der Amtseinführung des US-Präsidenten. Das war nichts Neues. Schon Robert Frost hatte ein Gedicht bei Kennedys Inauguration 1961 vorgetragen. Doch Gormans Verse gingen sofort viral. Innerhalb von 24 Stunden hatte ihr Gedicht, für dessen Lektüre man etwa sechs Minuten braucht, auf Twitter eine Million Follower, auf Instagram 2,2 Millionen. Man muss dieses Gedicht, das den amerikanischen Traum in einer sehr aktuellen, zeitkritischen, aber zukunftsoptimistischen Weise beschwört, nicht unbedingt für ein ästhetisches Meisterwerk halten, um seine enorme Potenz zu würdigen. Lyrik hat Hochkonjunktur. Gedichte bewegen die Welt. Und Dichter:innen kommen in der Politik an.
Aber was macht eigentlich ein Gedicht? Es bringt die „Freiheit und Wendigkeit der Gedanken“ in die Sprache, „indem sie sie herausfordert, auslockert, präzisiert, ja korrigiert.“ So stellte die Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung die Georg-Büchner-Preisträgerin 2020 vor: Elke Erb, eine Dichterin mit deutlich größerer Tiefen- als Breitenwirkung. Der höchste deutsche Preis markiert einen Prestigegewinn der Lyrik. Der Literaturwissenschaftler Christian Metz meint, dass man künftig „die ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts als Blütezeit der deutschsprachigen Lyrik“ bestaunen würde. In seinem Buch „Poetisch denken“ (2018) zieht er die Erfolgsbilanzen. Die Lyrik von jetzt eröffnet Wege jenseits des Establishments, Perspektiven nach der Postmoderne, sie zeigt pluralistische, interkulturelle, vielsprachige Phänomene einer Gattung, die sich allen Totsagungen zum Trotze lebendiger denn je gehalten hat.
Gründe für den Erfolg: Lyrikverlage und Lyrik-Preise
Da sind zunächst die eigens auf Lyrik spezialisierten Verlage. Die Lyrikerin Daniela Danz gründete 2003 aus dem Berliner Label KOOKread den Independent-Verlag kookbooks. Dahinter verbirgt sich keine Parodie auf Rezeptbücher; „kooks“ ist ein Slangwort für jüngere und auch ältere Dichter, die in diesem Verlag ihre Träume Buch werden lassen können. Etwa Steffen Popp, Crauss, Monika Rinck, Uljana Wolf. Die Lyrikedition 2000 druckt books on demand und hebelt damit die Lagerkostenproblematik aus.
Zweitens: Lyrik hat die Preislandschaft erobert. In Deutschland, wo – wie in keinem anderen Land sonst – über 700 Literaturpreise im Jahr verliehen werden, haben Lyriker bessere Aussichten auf anerkannte Preise als zuvor. 2015 erhielt Jan Wagner als erster Lyriker den Leipziger Buchpreis. Monika Rinck wurde im gleichen Jahr mit dem Kleist-Preis, Nora Gomringer mit dem Klagenfurter Bachmann-Preis ausgezeichnet. Nach Jan Wagner (2017) erhielt Elke Erb den Büchnerpreis 2020 und wurde spät, aber nicht zu spät als politische Dichterin anerkannt.
Die 1938 in der Eifel geborene Elke Erb hatte bereits 1975 mit dem Band „Gutachten. Poesie und Prosa“ debütiert. Es folgten mehr als 20 Bände, zuletzt die Sammlung „Das ist hier der Fall“ (2020). Nie hat die Dichterin einer Dichterschule angehört. Sie lässt sich in keine Traditionslinie einreihen. Sie stand vor dem Mauerfall mit der Friedensbewegung und mit der Kunstszene des Prenzlauer Bergs in Kontakt, war aber weder deren Mentorin noch poetische Mutter. Der Ursprung ihres Schreibens liegt im Unbehagen an politischen Zuständen, die unfrei sind. In diesem Sinne hat sie freien Gedanken eine Sprache entlockt, die unbekümmert ist, gutwillig, spendabel mit Bildern und Wortneuschöpfungen wie „Vermögensstockwerke“, „übersterben“ oder „Ludervolk“. Es macht Freude, Elke Erbs Gedichte zu lesen. Dichter haben sich von ihr gerne anregen lassen. „Von der Erbin lernen, heißt erben lernen“, sagt Bert Papenfuß.
Lyrik im digitalen Zeitalter
Die dritte Motivation für die Wiederauferstehung der Lyrik ist die Digitalisierung. Es ist nicht nur zeitgemäß, das Gedicht in sozialen Medien zu inszenieren und die angestaubte Gattung des Erlebnisgedichts in der Jetztzeit mit dem Weltwissen zu vernetzen. Es passiert etwas mit der Lyrik, wenn sie sich in der digitalen Welt bewegt. Der formale Rahmen verschiebt sich von Strophenform oder Versmaß auf die Darbietung in Schrift und Stimme, das eigene Erlebnis wird mit fremden Erfahrungen aufgepeppt. So kommt es zu den spannenden Prozessen von „re-writing“ und „moving information“. Dabei ist das Gedicht Informationsträger, Wissensarchiv, Bildungsspeicher, aber auch Generator neuer Ideen und unerhörter Zusammenhänge. Jan Wagners Ölbaum-Haikus (in seinem Band „Australien“, 2010) lässt die Natur den Menschen und seine Wahrnehmung verändern, der Ölbaum wird zum Mitspieler des Gedichts im Anthropozän, das zeigt, wie bedroht sein Gegenstand und wie aktivierbar sein Leser sein muss. Nadja Küchenmeisters Gedicht „unter dem wacholder“ (in dem gleichnamigen Lyrikband von 2014) macht aus der biblischen Geschichte vom lebensmüden Propheten (1 Kön 19,4-5) den Monolog einer trauernden Geliebten: „etwas betet / in mir. Wer in die wüste geht zu sterben, der kann / sterben oder unter dem wacholder noch den rest // leben erben [...]“.
Und was macht das Gedicht …,
wenn es ihm so gut geht? Christian Metz hat in seinem Buch „Poetisch denken“ dafür eine einleuchtende Erklärung gegeben. Es erfindet sich neu: als „avantgardistisches Erlebnisgedicht“. Damit wird mit der Legende aufgeräumt, dass dem Dichter seine Verse aus freiem Himmel zufallen, dass er wie Goethe beim Wandern sein Sturmlied dem Unwetter abtrotzen würde. Aber wie hätte er da, ohne schützendes Dach, vernünftig schreiben können? Avantgardistisch ist die zeitgenössische Erlebnislyrik, indem sie den Erlebnistext durch Montage und Readymades gehen, also von fremdem Wissen aufmischen lässt. Das kann so konzentriert – eben: in verdichteter Form – nur das Gedicht.
Kerstin Hensel betitelt ihren neuen Lyrikband „Cinderella räumt auf“ (2021). Aschenputtel ist eine von ihren Schleuderfiguren, mit denen sie die poetischen Gattungen, die Sprachen und die Dichter miteinander ins Gespräch bringt. Eine andere ist Daphne, die aus dem Opferstatus (sie wurde im Mythos auf der Flucht vor dem liebesdurstigen Apoll in einen Lorbeerbaum verwandelt und stiftet seitdem die Ehrenkränze für die Dichter) befreit und von Hensel mit „herrlich unvernympht'schen Sinnen“ ausgestattet wird. Hinter diesem Wortspiel steckt ein poetisches Programm. Welches, das kann man erhellend in Kerstin Hensels Lyrikessay „Das verspielte Papier. Über starke, schwache und vollkommen misslungene Gedichte“ (2014) nachlesen: Das Gedicht, wenn es gut, zeitgemäß, zukunftsbeständig sein will, wagt den Sprung über Vers- und Strophengrenze, erzeugt Spannung für Doppelsinn, reanimiert den Schüttelreim, tarnt die Botschaft mit Symbolik und enthüllt sie in Metaphern, befeuert Assoziationen und auch Abstraktionen, braucht Gefühle, ist aber selbst keines.
Etwas mit der Sprache macht auch die Dichterin Friederike Mayröcker, die 2001 den Büchnerpreis erhielt und viele Jahre als Nobelpreiskandidatin gehandelt wurde. Bis ins hohe Alter hat sie Lyrik geschrieben und gelesen, meist in ihrer Heimatstadt Wien. Dort ist die grande dame der österreichischen, der deutschsprachigen und der europäischen Literatur am 4. Juni 2021, sechsundneunzigjährig, gestorben. Natur, Tierleben, Elementardinge, Himmelserscheinungen gehören zum Inventionsbestand ihrer Werke. Man muss sich die Dichterin als mit dem „Kopf in den Nacken geklappt[en]“ Menschen vorstellen, der im Nachthimmel „das Auge des Mondes beschnitten / von einem zarten Gewölk“ beobachtet – und dann sein „Gesicht im Spiegel des Monds“ erkennt, wie in Mayröckers postromantischer Version von Eichendorffs „Mondnacht“.
Was Lyrik alles kann:
Mayröckers Gedichte, an hunderten gesammelt, verwandelt Wahrnehmung in Worte. Und das auf eine Weise, die avantgardistisch ist und radikal, aber zugleich zurückgeht auf die ältesten Mittel der Poesie, auf Anrufung, Beschwörung, Erfindung, die immer noch virulent sind, auch wenn ihre Zwecke (heilen, Schaden abwenden, Götter gnädig stimmen) verschwunden sind (vgl. Heinz Schlaffer: Geistersprache, 2012). Dichtung ist für Friederike Mayröcker Magie und viele ihrer Gedichte und Prosatexte üben eine geradezu magische Anziehungskraft auf Leser aus, nicht zuletzt auch auf weitaus jüngere Dichter wie Ulrike Draesner oder wie Marcel Beyer.
Friederike Mayröcker schrieb 1939 ihr erstes Gedicht und hat dies, wie sie oft erzählte, als theopoetisches Pfingsterlebnis empfunden. Aus dem Fenster blickend, hatte sie einen brennenden Dornbusch gesehen und war sofort davon überzeugt, dass sie nicht aus sich selbst schreiben konnte, sondern für ihre „pneumatische Fetzensprache“ „einer Art Gnade“ bedurfte, eines Geistesblitzes. Dieses poetische Denken „in langsamen Blitzen“ setzt sie in ihren letzten Lebensjahrzehnten der Altersschwermut und der Angst vor der drohenden Demenz entgegen. Frühmorgens, oft noch im Bett, mit Kuli, hat sie ihre Einfälle notiert, um die Notizen dann in die Schreibmaschine, eine Hermes Baby, die sie 1946 gleich von ihrem ersten Lehrergehalt gekauft hatte, zu übertragen, wobei sie aus der Not des fehlenden „ß“ auf der Tastatur der Schweizer Schreibmaschine die neobarocke Tugend der „sz“-Schreibweise machte. In ihrer Schreib- und Wohnhöhle schrieb sie auf alles, was greifbar war, auf lose Blätter, Pappteller, Papierservietten. Und schlug mit diesem poetischen „Action Painting“ Funken aus ihren Gedanken: „Auswärtshimmel, getigerte Gaunerei, Wortrakete 5 Uhr früh mal Augen aufschlagen“. Kontrolliert hat sie diese Bilder- und Wortströme mit altbewährten Mitteln der Poesie, mit Wiederholung durch Rhythmus und Reim, mit Assoziationsketten und Neologismen („Ohrenbeichtvater“, „Arbeitstirol“, „Weltüberschwäng¬lichkeit“, „Waldvermächtnis“, „Brotwolke“, „Mütze des Himmels“). Damit ist sie die wohl erfindungsreichste Autorin der deutschen Literatur. Ihr poetisches Denken hat Wörter miteinander in Verbindung gebracht, die sich sonst niemals kennengelernt hätten.
Was bleibt, stiftet die Lyrik
Es ist also tatsächlich in den 2000er und 2010er Jahren eine Hochzeit der Lyrik angebrochen. Während der Pandemie wurden in Hamburger Parks Naturgedichte in Klarsichtfolien an Bäume geheftet. Gedichte gehen dahin, woher der Leser kommt, sie sprechen uns an: mit unmöglichen Forderungen oder eingängigen Formeln, als „Zündkerzen“ (Durs Grünbein) und als „Augenblick von Freiheit“ (Hilde Domin). In diversen Formaten: Audio-Lyrik, Slam Poetry, Netzpoesie, kollaborativen Gedichten. Während des ersten Pandemiefrühlings hat die aus Dalmatien stammende Marica Bodrožić wochenlang jeden Abend auf ihrem Berliner Balkon Rilkes Gedicht vom eingesperrten „Panther“ deklamiert.
Der britische Schauspieler Patrick Stewart hat unter den Motto „A sonnet a day keeps the doctor away“ täglich ein Shakespeare-Sonett in den sozialen Medien verbreitet. Und auch wenn es schwer vorstellbar ist, dass mit einem Gedicht ein neuer deutscher Regierungschef eingeführt wird, so gibt es seit 2013 auf Initiative der Kulturstaatsministerin Monika Grütters sogar „Lyrik im Bundeskanzleramt“.
Michael Braun