Welten auseinander
Julia und ihre Schwestern aus Ostberlin wachsen nach ihrer Ausreise in den Westen auf einem etwas heruntergekommenen Bauernhof in Schleswig-Holstein auf in einem einfachen freien Leben, ohne Zwänge, eher vernachlässigt, weil ihre Mutter, eine Künstlerin, den Alltag nicht bewältigt. Eine ärmliche, ungewöhnliche Kindheit und Jugend. Julia beginnt früh zu schreiben, lange Tagebucheinträge helfen ihr, aus dem Leben von knapper Sozialhilfe, Hunger und Kälte zu fliehen. Und sie entwickelt sich letztlich von der Tagebuchschreiberin zur preisgekrönten Autorin (was aber nicht Teil des Romans ist). In ständigen Rückblenden, die das Lesen nicht leichtmachen, bis an den Anfang des 20. Jh., entwickelt sich eine bunte Familiengeschichte, geprägt von meist starken Frauen, z.B. der Großmutter Inge, Bildhauerin, Kommunistin, nicht angepasst. Dazwischen gestreut Ausschnitte aus der besonderen Beziehung zwischen Julia und Stephan. Immer wieder empfindet Julia Scham, Schwäche, Verzweiflung, Ausgrenzung - im Übergangslager nach der Aussiedlung, in der Schule, immer wieder von der Mutter getrennt. So ganz nebenbei taucht eine Reihe von bekannten Personen aus der DDR-Dissidenten-Szene auf: Eva-Maria und Nina Hagen, Wolf Biermann, Robert Havemann und viele andere. Sie gehören alle zum weiteren Kreis der Familie und Freunde. Julia Franck schreibt eine beeindruckende Familiengeschichte, ihre Familiengeschichte, eine "deutsch-jüdische Ost-Westgeschichte" (so Julia Franck), bewegend, berührend, emotional und faszinierend, großartig erzählt. Allen Büchereien eindringlich empfohlen.
Wilfried Funke
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Welten auseinander
Julia Franck
S. Fischer (2021)
367 Seiten
fest geb.