Laufendes Verfahren
Der NSU-Prozess gegen eine rechtsextreme Terrorgruppe gilt als das spektakulärste Strafverfahren der Nachwendezeit. Verhandelt wurde über fünf Jahre am Oberlandesgericht München mit einem immensen Aufwand an Juristen, Zeugen und Akten. Der Prozess wurde intensiv von Journalisten begleitet und inzwischen auch in mehreren Dokumentarfilmen dargestellt. Kathrin Rögglas Roman ist, um das gleich zu sagen, keine Gerichtsreportage und kein Kommentar, sondern eine beobachtende Versuchsanordnung. Die Autorin konstruiert eine Gruppe von Prozesszuschauern, die dem Geschehen vor Gericht aus einer betont unprofessionellen, neugierigen und auf die Arbeit der Justiz gerichteten Perspektive auf der Empore folgt. Unter den Zu- und manchmal auch Weghörenden sind „Erklärburschen“ wie ein „O-Ton-Jurist“, der „Bloggerklaus“, eine „Omagegenrechts“ und ein „Gerichtsopa“, unterschiedliche Typen also, die zusehen wollen, wie der Staat Recht macht, und darüber tuscheln, ob er es wirklich allen recht machen kann. Es geht dabei um Präsenzlisten und Besetzungsrügen, Anträge und Aussagen, Verschwörungstheorien kommen zur Sprache, und es wird findig unterschieden zwischen dem guten Erzählen, welches das gute Fortkommen des Prozesses dokumentiert, und dem schlechteren Erzählen, das es mit dem nicht so guten Voranschreiten des Prozesses aufnimmt. Ausgeklammert werden allerdings die terroristischen Hintergründe der Mordanschläge wie auch die politischen Diskussionen des Prozesses. Die kollektive Sichtweise dieser auf die eigenen Reaktionen konzentrierten Zuschauer erzeugt einen eigenen Sound, der ohne Betroffenheit auskommt. Ein juristisches Schattenspiel von der Zuschauertribüne, ein erzählerisches Experiment mit dem und vor dem Gesetz, eine selbstbeobachtende Beobachtung der Justiz bei der Arbeit, ein Gang durch ein gewaltiges Prozessgebirge: Man kann Rögglas Roman auf vielfache Weise lesen und einiges über das Funktionieren der demokratischen Rechtsprechung lernen. Lehrreiche Lektüre, gewiss nicht unumstritten – nominiert für den Deutschen Buchpreis.
Michael Braun
rezensiert für den Borromäusverein.
Laufendes Verfahren
Kathrin Röggla
S. Fischer (2023)
203 Seiten
fest geb.