Tage im Mai.

Eine Frau verlässt ihre Wiener Wohnung, beobachtet einen aufgebrochenen Bankomaten, erbaggert sich zehn Euro von einem Ex-Lover, findet den Kaffee an der Covid-Teststation den besten, stellt sich den Strahlentod des russischen Regimekritikers Alexander Tage im Mai. Walterowitsch Litwinenko vor. Eine andere Frau bricht in Tränen aus, als sie von einer teuer angezogenen Kundin beschimpft wird, und stellt sich die Postings von Gabby vor, einem ermordeten Mädchen. Konstanze ist Übersetzerin ohne Aufträge, ihre Tochter Veronica Rezeptionistin in einem dubiosen Unternehmen. Was sie eint, ist eine argentinische Netflix-Serie aus den 1930er Jahren. Und der Zustand einer unverbesserlichen Dauerdepression, verursacht durch den Überdruss an Krisen, die in Form von Corona und Krieg, Rassismus und Klimawandel auf sie einstürmen. Marlene Streeruwitz lässt ihren Roman im Mai 2022 spielen und die Leser/-innen auf jeder Seite spüren, wie sehr die sogenannte Zeitenwende ihren Figuren zusetzt. Und das gilt wohl auch für die Autorin selbst, denn der Roman gibt sich als Zeugnis einer Schreibkrise zu erkennen, die sich in abgehackter Syntax, grammatischer Unordnung und andauernden Problemschleifen äußert, die wenigstens manchmal abgefedert werden durch Ironie. Eine ernsthafte Tiefenbohrung in der Entfremdung in weiblichen Generationsverhältnissen, ein abgerissener Mutter-Tochter-Dialog, ein mutiger Stresstest von Boomern, die zu Doomern werden, zu schicksalsverfallenen Figuren in den Krisenballungen unserer Zeit.

Michael Braun

Michael Braun

rezensiert für den Borromäusverein.

Tage im Mai.

Tage im Mai.

Marlene Streeruwitz
S. Fischer (2023)

380 Seiten
fest geb.

MedienNr.: 611825
ISBN 978-3-10-397350-1
9783103973501
ca. 26,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
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