Empusion

Dass der "Zauberberg" vielfach als Venusberg interpretiert wurde, ist passionierten Thomas Mann-Lesern seit langem bekannt. Und diese Komponente des Romans ist es auch, die die polnische Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk in ihrer jetzt auf Deutsch erschienenen "Zauberberg"-Kontrafraktur "Empusion" in den Mittelpunkt stellt, wenngleich unter den grundsätzlich geänderten Vorzeichen eines nonbinären Geschlechterverständnisses. Schauplatz ist der niederschlesische Kurort Görbersdorf, der in puncto Lungenleiden sogar die bessere Heilwirkung entfaltet als das nach dessen "Vorbild eingerichtete[...] schweizerische[...] Davos". Hierher verschlägt es kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs den jungen Mieczyslaw Wojnicz. Er kommt in einem "Gästehaus für Herren" unter, in dem seine Mitbewohner allerhand zeitgenössische misogyne Theorien diskutieren. Auf andere Art wird das Thema "Frau" durch die sogenannten "Tuntschis" aufgegriffen, mit denen Wojnicz während seiner Wanderungen in die Umgebung konfrontiert wird - eine Art überlebensgroße Darstellungen weiblicher Körper, aus Naturmaterialien gestaltet. Im Laufe des Romans melden sie sich verschiedentlich zu Wort, und diese mythologischen Wesen mit ihrem geheimnisvollen Begehren sind es vor allem, die den Roman zur "Schauergeschichte" machen. - Tokarczuks Buch ist für alle geeignet, die an der Suche nach Thomas Mann-Reminiszenzen Spaß haben und die sich gleichzeitig für einen hintergründigen Beitrag zur aktuellen Diskussion über Geschlechterdiversität interessieren.