Die verlorene Seele
Ein Mann verliert plötzlich das Bewusstsein seiner selbst. Weder weiß er, wie er heißt, noch was er an dem Ort vorhatte, an dem er sich aufhält. Eine Ärztin stellt die Diagnose: wie so viele Menschen habe er in der ständigen Eile des Alltags
seine Seele verloren. Ihr Rat ist kompromisslos: der Mann solle warten, bis ihn seine Seele wieder eingeholt habe. Niemand wird leugnen, dass unser Leben oft fordernd und erschöpfend ist und dass jedem eine Pause zusteht, sei es bei einer Kur oder einem Yoga-Kurs. Aber einfach warten, auf unbestimmte Zeit, ohne Vorgabe, sich zu erholen? Die Zeichnungen dieses Buches zeigen, dass der Schlüssel in der Erinnerung liegt: Bilder von Schneelandschaften, Kinder-Fotos mit Spielkameraden oder von Familienfesten. Und vor allem zeigen sie die Natur, die sich sogar ins Haus des Mannes ihren Weg sucht und die erst zu ergrünen erscheint, als seine Seele wieder bei ihm Einzug hält. Der schmale Text der polnischen Nobelpreisträgerin erzählt in einer beschwörenden Intensität von diesem Lebensweg. Beim Durchblättern der Seiten dieses Künstlerbuches wandeln sich die inneren Bilder der Vergangenheit zu einer auratischen Schau auf das Erlebte. Es ist ein stilles Buch und diese Stille überträgt sich auf Leser und Betrachter. Vielleicht kann auch er sich dem ruhigen Fluss der Erinnerung hingeben.
Dominique Moldehn
rezensiert für den Borromäusverein.

Die verlorene Seele
Olga Tokarczuk ; illustriert von Joanna Concejo ; aus dem Polnischen von Lothar Quinkenstein
Kampa (2019)
[52] Seiten : farbig
fest geb.
Borromäus-Altersempfehlung: ab 12