Herr Unverwechselbar

Ein Mann, Herr Unverwechselbar, ist von angenehmen Äußerem und allseits beliebt. Um die positive Resonanz zu bewahren, macht er es sich zur Gewohnheit, Fotos von sich ins Internet zu stellen. Doch eines Tages bemerkt er, dass sein Spiegelbild immer Herr Unverwechselbar undeutlicher wird, bis schließlich aus seinem Gesicht nur noch ein verschatteter Fleck geworden ist. Dieser Prozess muss aufgehalten werden, er kauft sich ein neues Gesicht. – Es ist das romantische Motiv des Identitätsverlusts, das in diesem Buch eine aktuelle Fassung gewinnt. Peter Schlemihl und Dorian Gray mögen ältere Brüder des Herrn Unverwechselbar sein, doch wird hier die Selbstvergewisserung einer Person durch die heutigen Möglichkeiten der sozialen Medien ungemein verstärkt und beschleunigt. Die beinahe lakonische Sprache der Erzählung forciert bei der Lektüre geradezu diesen Sog des fatalen Selbstverlusts. Hier werden keine traumwandlerischen oder märchenhafte Motive mehr aufgerufen, im Gegenteil: die Sprache selbst bildet das Ausgeliefertsein innerhalb eines durchrationalisierten und technisierten Systems ab. Dem Wunsch des modernen Menschen nach Individualität folgt der Verlust eben dieser. Auf diese These antworten die Bilder: man blättert sich durch Folgen von abgezeichneten Fotografien, die in ihrer Unschärfe und farblichen Verfremdung an Erinnerungsbilder gemahnen, die jeder von seiner Kindheit und Jugend mit sich trägt. Diese Montagen von Porträts, Landschaften und Interieurs erscheinen universal und gleichzeitig individuell, so dass sie die Aussage des Erzähltextes gleichermaßen abbilden und konterkarieren. Ausstanzungen bezeichnen "blinde Flecke", aufklappbare Seiten lassen sich als linearer Fluss von atmosphärischem Erleben lesen. – Diese so anspruchsvolle und klug durchdachte buchkünstlerische Arbeit birgt ein großes Potential zur Reflexion über das Wesen des modernen Menschen.

Dominique Moldehn

Dominique Moldehn

rezensiert für den Borromäusverein.

Herr Unverwechselbar

Herr Unverwechselbar

Olga Tokarczuk ; Illustrationen Joanna Concejo ; aus dem Polnischen von Lothar Quinkenstein
Kampa (2023)

[56] Seiten : teilweise farbig
fest geb.

MedienNr.: 613734
ISBN 978-3-311-40009-7
9783311400097
ca. 28,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: J
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