Schlafende Sonne

Zuerst die Struktur, dann die Phänomene: so heißt es in Thomas Lehrs Roman "Schlafende Sonne", und das ist ein geschickt gesetztes Lesezeichen. Der Roman ist in Teile und diese wiederum in Kapitel aufgebaut, die sich, ganz nach dem Buddenbrooks-Muster, Schlafende Sonne wie in sich geschlossene Episoden lesen lassen. Die Struktur hilft bei der Lektüre dieses dickleibigen Buches, das Teil einer Trilogie werden soll, "Wird fortgesetzt", so endet der Roman. Denn der Leser ist gut beraten, innezuhalten und mit den Augen zu blinzeln angesichts des vielfach verschachtelten Verlaufs der Handlung, der wiedererkennbaren Figuren (Husserl und Edith Stein vor allem) und angesichts der auf ihn einstürmenden Phänomene. Es sind die großen und kleinen Geschichten des 20. Jahrhunderts, vom Ersten Weltkrieg über den Holocaust, den RAF-Terror, Wiedervereinigung bis zur Erzählgegenwart, dem Jahr 2014, die aus dem Blickwinkel der erfolgreichen Künstlerin Milena Sonntag erzählt werden. Sie ist, wie bei Uwe Johnson, eine Art Gesine Cresspahl, nur dass es nicht die "New York Times" ist, die durch die Jahrestage leitet, sondern eine Ausstellung von ihr mit dem Titel "Schlafende Sonne", deren Exponate historische und persönliche Schlüsselbilder aufnehmen, deuten und weitererzählen. So entsteht ein im wahrsten Sinne kunstvolles, ambitioniertes Erzählgemälde deutscher Kultur, Politik und Wissenschaft (der Autor ist studierter Biochemiker) ein Roman, der "ans Universum genagelt" ist (Paul Jandl) und uns mit der Sonne im Titel erhellt, blendet und spiegelt. Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2017.

Michael Braun

Michael Braun

rezensiert für den Borromäusverein.

Schlafende Sonne

Schlafende Sonne

Thomas Lehr
Hanser (2017)

637 S.
fest geb.

MedienNr.: 862802
ISBN 978-3-446-25647-7
9783446256477
ca. 28,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
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