Lass uns doch noch etwas bleiben
Um dem Leiden und dem Siechtum im Alter zu entgehen und auch das öffentliche Gesundheitssystem zu entlasten, nach einschlägigen Erfahrungen mit den alten Eltern, beschließt das Londoner Ehepaar Cyril (Jahrgang 1939) und Kay (Jahrgang 1940) Wilkinson,
mit achtzig Jahren gemeinsam freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Er ist Arzt, sie Krankenschwester, daher können sie das für sich arrangieren. „Ich schlage vor, dass wir kurz nach unserem 80. Geburtstag Selbstmord begehen.“ Soweit der Plan bzw. die Vereinbarung mit Anfang 50 zu Beginn der 1990er-Jahre. Dann erreichen sie tatsächlich, nur mit kleinen gesundheitlichen Einschränkungen, das anvisierte Datum, leider in Pandemiezeiten: Kays 80. Geburtstag im Frühjahr 2020 – aber nur Cyril schafft es, den Plan umzusetzen, denn Kay zögert in letzter Minute und verständigt ihre Tochter. Nach dieser ersten Version der Geschichte bietet die Autorin nun verschiedene mögliche Varianten an, wie die Eheleute allein oder zu zweit ab 80 weiterleben oder sterben. Gehen oder bleiben, und wie das Bleiben gestalten und das Gehen organisieren, das ist hier die Frage. In politischen, gesellschaftskritisch dialogischen Reflexionen ereifert sich das betagte Ehepaar und setzt sich so mit dem wichtigen Thema Alter und seiner gesellschaftlichen Relevanz auseinander. Mit ihren vielschichtigen Protagonisten probiert die Autorin brillant verschiedene Handlungsvarianten, bis zu skurrilen Sci-Fi-Szenarien, aus. Ein besonderer Roman mit Humor und Sarkasmus und mit großer Lebensklugheit über das späte Leben. Immer mit der Frage, was sinnvoll und planbar ist für den letzten Lebensabschnitt.
Karin Steinfeld Bartelt
rezensiert für den Borromäusverein.

Lass uns doch noch etwas bleiben
Lionel Shriver ; aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Abarbanell und [einem weiteren]
Piper (2024)
349 Seiten
fest geb.