Der Schlaf in den Uhren

Lange hat die literarische Welt auf Uwe Tellkamps neuen Roman über die Wendezeit 1989/90 gewartet, zu lange, wie viele Kritiker meinen, die von diesem Buch enttäuscht sind, weil es ihre Hoffnungen auf eine andere, politisch entspannte Fortsetzung Der Schlaf in den Uhren enttäuscht. Das wiederum liegt an der Vorgeschichte, die „Der Schlaf in den Uhren“ hat. Er gehört zu Tellkamps großem Schreibprojekt, das mit „Der Turm“ begann, der 2008 erschienen ist (BP 08/839), mehrfach für die Bühne bearbeitet, 2012 verfilmt wurde und von Publikum wie Kritik gut angenommen wurde. Tellkamp ließ Einblicke in sein neues Projekt zu, aber die Leser/-innen darauf warten. Im März 2018 exponierte sich der Autor in Dresden bei einem Gespräch über Einwanderungspolitik, beklagte verengte „Gesinnungskorridore“ und Ausgrenzung Andersdenkender. In dem neuen 3sat-Film „Der Fall Tellkamp“ sieht er sich in die Rolle eines Opfers der Mediendebatte gedrängt, als persona non grata. Das dürfte sich mit dem neuen Roman ändern, der viel besser ist, als ihn die Kritik gemacht hat. „Der Schlaf in den Uhren“ spielt im Sommer 2015 und Herbst 2021, setzt aber die aktuellen Ereignisse in einen nicht sehr freundlichen utopischen Rahmen. Die Handlung spielt in einem hanseatischen Stadtstaat namens Treva. Hier gibt es einen labyrinthischen politischen Untergrund, verschachtelte Befehlswege, ein Pressemonopol und „Operative Vorgänge“. Umso näher kommen die Figuren den Leser/-innen, die Tellkamp ins Feld führt und die überwiegend aus dem „Turm“ bekannt sind: die inzwischen geschiedene und wiederverheiratete Anne, die zur ökonomisch versierten Kanzlerin in Treva aufgestiegen ist, der unangepasste Meno Rohde mit seiner Zehnminutenuhr, allen voran Fabian Hoffmann, Annes Neffe, der als Chronist im Zeitarbeiterkollektiv arbeitet und uns die ganze Geschichte aus chronikalischer Perspektive erzählt. Aus Fabians Sicht fällt ein scharfes Licht auf die Ordnungsfantasien und Machtstrukturen von Medien und Politik: jede Nachricht, heißt es einmal, ist nur ein kleiner sichtbarer Teil der Wahrheit, nicht diese selbst. Das Pathos des „Turm“-Romans ist zurückgenommen, die Anspielungen auf reale Politiker und Schriftsteller sind gewitzt, die Rückblenden in die Vor- und Nachwendezeit und in DDR-Kindheiten eindringlich erzählt. Ein utopischer Gesellschaftsroman über Deutschlands Osten, ein Narrativ über Macht und Zeit, mit einem munteren Figurenensemble: keine leichte, aber lohnende Lektüre.

Michael Braun

Michael Braun

rezensiert für den Borromäusverein.

Der Schlaf in den Uhren

Der Schlaf in den Uhren

Uwe Tellkamp
Suhrkamp (2022)

904 Seiten : Illustrationen
fest geb.

MedienNr.: 610661
ISBN 978-3-518-43100-9
9783518431009
ca. 32,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
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