Alles ist jetzt
Ingrid ist jung, hübsch und ziemlich runter. Sie bringt sich alleine durch und die meiste Zeit auch noch ihren Bruder, der mit Drogen dealt und sie auch konsumiert. Ingrid hat einen miesen Job in einer Sexbar, am Tresen wohlgemerkt, den Rest blendet
sie aus. Das hat sie früh gelernt. Die Nabelschnur zu ihrer Restfamilie, einer depressiven, alkoholkranken Mutter, hat sie mit 18 durchtrennt. Ein Ausflug in die große Stadt zu ihrer Jugendliebe zerstörte damals ihre Hoffnungen auf eine richtige Beziehung mit dem angehenden Mediziner. Den Vater trifft sie nur noch einmal im Jahr immer kurz vor Weihnachten, es geht mehr um den Geldschein, den er ihr dann zusteckt. Er hat seine anstrengende erste Familie längst mit einer besser passenden getauscht. - Die junge Autorin Julia Wolf erzählt in ihrem Debütroman eine nüchterne Geschichte über das Erwachsenwerden und wie man damit fertig wird, wenn die Startbedingungen eines wohlbehüteten Mittelschichtssprösslings sich plötzlich dramatisch verschlechtern, weil die Eltern versagen. Sie verdichtet das Geschehen und ihre Sprache derart, dass man das schmale Buch ab und zu weglegen muss, um durchzuatmen. Nicht die schlechteste Nebenwirkung von Literatur. Am Ende kann Ingrid sich ein Stück weiter entfernen von den Verletzungen ihrer Kindheit, eine kleine Befreiung immerhin. Eine eindrückliche, intensive Lektüre.

Alles ist jetzt
Julia Wolf
Frankfurter Verl.-Anst. (2015)
158 S.
fest geb.