Halbinsel
Als die Tochter Linn drei Jahre alt ist, die familiären Lebensverhältnisse noch empfindlich, die Abgrenzung von den (Schwieger-)Eltern kaum vollzogen, stirbt Annetts Mann Johan an Herzversagen. Die Ich-Erzählerin Annett, Bibliothekarin, kämpft
sich alleinerziehend durchs Leben. Gerade beginnt sie, in steten gedanklichen Zwiegesprächen mit Johan sich neu zu sortieren, da konfrontiert sie ein Schwächeanfall Linns, nach erfolgreichen Studien inzwischen als Umweltberaterin aktiv, mit ihrer vermeintlichen Verantwortung für ihr Kind. Linn zieht wieder bei ihr ein, bemächtigt sich ihrer kleinen Welt. Während Annett die Fürsorge für das Kind gegen die Freiheit für sich selbst wieder Oberhand gewinnen lässt, hinterfragt Linn die mütterlichen Ansprüche und Ängste, konfrontiert die Endvierzigerin mit ihrem wenig selbständigen Leben. So findet Annett zögerlich zu einem Verhalten nach der Devise "Nimm Dich da raus" anstelle von "Reiß Dich zusammen", spürt eigene Sehnsüchte und geht ihnen aktiv nach. Dass ihre Tochter ihr en passant den kapitalistischen Schwindel um CO2-Zertifikate aufdeckt, lässt sie unberechtigten Forderungen und unbewältigten Erinnerungen nachgehen. – Ein überaus literarisches Mutter-Tochter-Stück, das nicht nur einen kleinen Mikrokosmos mit hoher Reflexionskraft beschreibt, sondern diesen inmitten von Naturgewalten und menschlichem Unvermögen zeigt. Bilkau verarbeitet ihren Stoff mit Präzision und Knappheit, klar, ohne Geschwätzigkeit und viel Tiefgang. – Für alle Bestände.
Rolf Pitsch
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Halbinsel
Kristine Bilkau
Luchterhand (2025)
220 Seiten
fest geb.