Die dritte Hälfte eines Lebens
Vor über zwanzig Jahren hat sich der Steinlachner Sepp am Krimmwinger Kirschkernhügel erhängt. Mit diesem fulminanten Einstieg lässt die Wiener Autorin Anna Herzig (Jg. 1987) ihren Erzähler eine Dorfgeschichte recherchieren, in der das Anderssein unerwünscht ist. Der Sepp war der uneheliche Sohn der Rosa Steinlachner, die sich mit 16 Jahren mit dem Schwarzen Jackson eingelassen hatte. Auch Lorenz Karl Ignatius Rathbauer hatte damals Rosa beobachtet, vor dem Spiegel, aber aus anderen Gründen: Er wollte von ihr lernen, wie man sich als Frau bewegt und schminkt, denn ihm war „wenige Tage vor seinem zwölften Geburtstag eine Frau aus der Seele gewachsen“ (S. 12). Mit dieser altertümelnden Sprache stellt sich ein Erzähler vor, bei dem man sich fragt, wer spricht da? Und der an den speziellen Ton aus Wolf Haas‘ Brenner-Romanen erinnert: „Und wer soll sich dann bitte noch auskennen bei all dem Hin und Her“ (S. 18). Als Leser/-in muss man aufpassen, dass man nicht auf der Strecke bleibt bei dem Geraune, „was man gehört hat“ und „was die Leute sagen“. Im zweiten Teil wird es immer skurriler und morbider. Das Ganze ist ein großartiger Lesespaß, wenn man sich darauf einlassen kann und bis zum Schluss durchhält. Sehr gerne empfohlen.
Karin Blank
rezensiert für den Borromäusverein.
Die dritte Hälfte eines Lebens
Anna Herzig
Otto Müller Verlag (2022)
130 Seiten
fest geb.