Demut

Der 1979 bei Katowice geborene Schriftsteller Szczepan Twardoch wurde mit seinen bisherigen Romanen aus der Warschauer Zwischenkriegszeit als Tarantino der Literatur gefeiert. Sein dynamisches Erzählen, ein effektvoller Plot, die Mischung von Gewalt Demut und Sensibilität findet sich auch in dem jüngsten Roman mit dem schlichten Titel „Demut“. Diesmal führt Twardoch seinen Helden aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs ins turbulente Nachkriegsberlin. Alois Pokora erwacht nach einem Shell Schock im Bethanienkrankenhaus in Kreuzberg. Mit ihm erwachen schmerzhafte Erinnerungen. Der Bergmannssohn aus Oberschlesien wuchs bei einem Pfarrer in Gleiwitz auf, der sich später als sein Vater erweist, studierte in Breslau, wurde Leutnant und Sturmführer. Und verliebte sich in die falsche Frau, Agnes. Twardoch erzählt die Geschichte einer Auferweckung, die eine persönliche und eine politische Dimension hat. Alois gerät in die Strudel der Revolution, schließt sich den Vorkämpfern der sozialistischen Republik an, widerspricht Rosa Luxemburg bei einer Vortragsveranstaltung. 1918/1919 schlüpft er bei einer verwitweten Schankwirtin unter und heiratet eine liebenswürdige polnische Frau. Doch die Attraktion von Agnes ist fatal. Sie lässt ihn am ausgestreckten Arm verhungern, quält und demütigt ihn zutiefst. Der/die Leser/-in mag sich wundern, warum sich Alois das so lange gefallen lässt, aber Twardoch wartet mit einer Pointe auf, die den als Konviktschüler, als Kriegsveteran und unerhörten Liebhaber immer wieder Gedemütigten rettet: Alois ist ein lebenskluger Tor, ein abenteuerlicher Simplicissimus, eine barocke Gestalt, die ins Zwischenkriegsberlin verpflanzt wird und lernen muss, dass wahre Demut keine Verbiegungen duldet, sondern Bekenntnismut und Geradlinigkeit verlangt. Empfehlenswerter Roman über einen Wanderer zwischen den Welten, von Olaf Kühl aus dem Polnischen in ein angenehm an Döblin anklingendes Deutsch übersetzt.

Michael Braun

Michael Braun

rezensiert für den Borromäusverein.

Demut

Demut

Szczepan Twardoch ; aus dem Polnischen von Olaf Kühl
Rowohlt Berlin (2022)

462 Seiten
fest geb.

MedienNr.: 609597
ISBN 978-3-7371-0121-9
9783737101219
ca. 25,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
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