Nacht wird es immer
Im Mittelpunkt steht eine dysfunktionale Familie: Mutter mit wechselnden Liebhabern, von denen einer sich an der Tochter vergehen will; Lynette, deren Geschichte erzählt wird, und ihr Bruder Kenny. Lynette erscheint den Leser/-innen als überforderte, verantwortungsvolle, liebevolle junge Frau, die ihren behinderten Bruder versorgt, so gut sie kann. Wenn sie zur Arbeit geht, muss sie ihn manchmal ruhigstellen mit einer Beruhigungspille und einem Film. Ab und zu kümmert sich auch die erschöpfte Mutter um ihn, die nach der Arbeit meist kettenrauchend und Gin trinkend auf dem Sofa liegt. Nach und nach entfaltet sich das wirkliche Drama der Familie. Lynette ist vor versuchtem Missbrauch geflohen und psychisch zusammengebrochen. Sie hat als Prostituierte gearbeitet und tut es immer noch - neben Jobs in einer Bar und einer Bäckerei. Sie will alles wieder gutmachen, will sich im Griff haben, will Geld verdienen, will das vergammelte Haus kaufen, für die Mutter, den Bruder, für sich. Aber dann macht die Mutter ihr einen Strich durch die Rechnung und kauft sich ein nagelneues, teures Auto. In der Nacht, in der die Handlung spielt, begleiten wir Lynette, die versucht, bei allen Menschen das Geld einzutreiben, das sie ihr schulden. Dabei handelt es sich meist um üble Typen, die Lynette belügen, betrügen, würgen und mit Messern attackieren. Doch sie weiß sich zu wehren und gegebenenfalls auch zu stehlen. Sie hält sich für “eine totale Versagerin. Ich hab eine Menge schlimme Sachen gemacht". Willy Vlautin erzählt liebevoll und voller Respekt von dieser jungen Frau, die Träume hat, die so gar nicht zu ihrer Realität passen - und von Menschen am Rande einer Gesellschaft, die am amerikanischen Traum festhalten, aber kläglich scheitern. Eindrucksvoll und berührend.
Ileana Beckmann
rezensiert für den Borromäusverein.
Nacht wird es immer
Willy Vlautin ; aus dem Englischen von Nikolaus Hansen
Berlin Verlag (2021)
282 Seiten
fest geb.