Die Tigerfrau
Die 1985 in Belgrad geborene Téa Obreht vereint in ihrem Debütroman faszinierende Geschichten, in denen der Großvater ihrer Ich-Erzählerin eine besondere Rolle spielt. Als verlässlicher Begleiter und Beschützer hat ihr der 1932 geborene anerkannte
Chirurg persönlichkeitsformende Werte vermittelt. Die Nachricht seines plötzlichen Ablebens trifft die junge Medizinerin insofern nicht unerwartet, als sie von der fortgeschrittenen Krebskrankheit des Großvaters wusste. Warum aber hat er sich zum Zeitpunkt seines Todes an der kroatischen Küste und nicht in seinem in Serbien gelegenen Wohnort aufgehalten? Ist er Gavo Gailé, dem unsterblichen Neffen des Todes, nachgereist? Oder war es sein Wunsch, sich ungestört der Kindheitserlebnisse im vom Aberglauben beherrschten Heimatdorf zu erinnern? Natalia kennt einige der aufregenden Geschichten; z.B. die von der taubstummen Frau des gewalttätigen Schlachters Luka, die von den Dörflern als "Tigerfrau" gefürchtet wurde. Auch vom Apotheker, dem zunächst anerkannten "Heiler", und von Darisa, dem Bärenjäger, hat ihr der Großvater erzählt. Jede dieser von Téa Obreht differenziert gestalteten Figuren verfügt über Ängste und Sehnsüchte bündelnde Erfahrungen, die in nachfolgenden Generationen weiterleben. - Das Überlieferte vor dem Vergessen zu bewahren, hat die Magisch-Fantastisches mit Realem verbindende, bilderreich und spannend schreibende Autorin als Auftrag empfunden. Entstanden ist eine facettenreiche, lesenswerte Prosa, die geopolitische Entwicklungen in Südosteuropa reflektiert und in dem Zusammenhang von Trennendem und von Verbindendem berichtet. (Übers.: Bettina Abarbanell)
Kirsten Sturm
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.

Die Tigerfrau
Téa Obreht
Rowohlt (2012)
413 S.
fest geb.