Vom Wacholderbaum
Ein heißersehntes Kind, der plötzliche Tod der Mutter, die böse Stiefmutter und der ermordete Bruder, der von seiner Schwester erlöst wird - dies ist die Figurenkonstellation des Grimmschen Märchens, das 1812 zunächst auf Plattdeutsch publiziert wurde. Es gehört nicht zu den allseits bekannten Märchen - zu Recht. Denn was sich zwischen Stiefmutter, Tochter und Stiefsohn abspielt, ist von schockierender Brutalität, die man Kindern heute zum Glück nicht mehr zumutet. Weshalb die Illustratorin und der Verlag gerade dieses Märchen auswählten, um es in einer Graphic Novel wieder aufleben zu lassen, bleibt ein Rätsel. Vielleicht soll der poppige Zeichenstil, der sich durchaus humorige Einlagen erlaubt, über das Entsetzen hinweghelfen, das sich beim Lesen einstellt. Morde und Kannibalismus gehören nicht zu den Themen, die heutige Leser:innen und Zuhörer:innen von Märchen erwarten dürfen. Diese "schwarze Pädagogik", die hier nach 200 Jahren wieder aufschimmert, gehört wahrlich tief vergraben.
Dominique Moldehn
rezensiert für den Borromäusverein.
Vom Wacholderbaum
Núria Tamarit ; nach den Gebrüdern Grimm ; aus dem Spanischen von Lea Hübner
Reprodukt (2022)
48 Seiten : farbig
fest geb.