Chora
„Chora“ ist ein tiefgreifender Begriff mit antiken Wurzeln. Es bedeutet Raum, Materie und die Schöpfung, die alles empfängt und von nichts etwas annimmt. Platon hat darüber geschrieben, Derrida auch. Und nun Michael Lentz. Es sind keine einfachen Gedichte, die sein neuer Band bietet, aber sie lohnen eine nachdenkende Lektüre. Lentz nimmt die Worte als Materie ernst, aus der sich etwas schöpfen lässt. Er präsentiert lange Gedichte über den angststummen Kain, der seinen Bruder erschlägt, über die Trauer, die fast Gott ist, über die Stimme als Haus der Kindheit und die mariengläubige Großmutter, die nie das Meer gesehen hat. Überhaupt ist auffällig, wie religiös musikalisch Lentz‘ Lyrik geworden ist, neben dem Rosenkranz kommen das Taufbecken, die Krypta und das „jüngste gesicht“ vor. Das ist wiederum in der von Lentz bis auf die barocke „GOtt“-Schreibung durchgängig angewandten Kleinschreibung natürlich ein Wortspiel, das auf einem schlichten Konsonantentausch beruht. Ähnliches passiert in den vielfach in den Band gestreuten Anagramm-Gedichten, in denen ein Eingangsvers mit munteren Buchstabenvertauschungen weiterentwickelt wird: Aus dem lapidaren „undsoweiter“ wird dann die überraschende Würdigung „weiser ton du“, dem Stoßseufzer „aber ich liebe doch“ wird die Einsicht „ich breche idole ab“ entgegengesetzt, und „wut dosieren“ verwandelt sich in den Appell „tun wir oedes“. Dadaistischer Buchstabenzauber, lyrische Denkbilder, für aufmerksam Lesende ein Erkenntnisgewinn mit Spaßfaktor.
Michael Braun
rezensiert für den Borromäusverein.
Chora
Michael Lentz
S. Fischer (2023)
126 Seiten
fest geb.