Egal wohin, Baby
Fotos, entstanden auf seinen vielen weltweiten Reisen, dienen Christoph Ransmayr als "optische Notizen", zu denen er kurze Texte schreibt. So entsteht eine Sammlung von 70 Bildern und literarischen Miniaturen, die jede für sich als Ausgangspunkt eines
längeren Textes dienen könnten. Ransmayr gibt sich selbst den Namen Lorcan. Minimalistische Texte, autobiografische Fragmente und philosophische Betrachtungen auf ein bis vier Seiten liefern einen absoluten Lesegenuss. Besonders bemerkenswert die herausragende sprachliche Gestaltung (übrigens in alter Rechtschreibung!). Lorcan schreibt von der Fahrt mit dem Atomeisbrecher in der Arktis, Begegnungen mit Eisbären und Gorillas, von Mexiko, Brasilien, Ägypten, einem Venusdurchgang vor der Sonne und irischen Gärten. Es geht um die Rettung einer Fruchtfliege, die im Weißweinglas zu ertrinken droht, oder einer Hundertjährigen, die ihren ersten Schnee sieht. Der Leser begleitet Lorcan auf seiner ersten Bergtour, bei der Besichtigung der Gefängniszellen in Gaeta, in denen die Kriegsverbrecher Kappler und Reder komfortabel untergebracht waren, auf der Suche in der Klosterbibliothek nach "Utopia" von Thomas Morus. "Egal wohin, Baby" – ein Graffito am Ingolstädter Bahnhof. So reihen sich Text und Bild aneinander. Als Schluss- und Höhepunkt (8 Seiten) begibt sich Lorcan zu Homers Grab, das sich auf der griechischen Insel Ios befinden soll. – Allen Büchereien unbedingt und nachdrücklich empfohlen.
Wilfried Funke
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.

Egal wohin, Baby
Christoph Ransmayr
S. FISCHER (2024)
255 Seiten : zahlreiche Illustrationen
fest geb.