Zeit ist eine Mutter
Wie in seinem Debütroman „Auf Erden sind wir kurz grandios“ geht es im dritten Gedichtband von Ocean Vuong um Autobiographisches. Richtete er im Roman einen Brief an seine analphabetische Mutter, so drückt er nun in den Gedichten seinen Schmerz über ihren Tod aus. Seine Mutter, mit der er als Kind aus Vietnam in die USA gekommen war, ist 2019 an Krebs gestorben. Diese Tragödie lässt er im lakonischen Gedicht „Amazon-Verlauf eines ehemaligen Nagelstudio-Mitarbeiters“ auf erschütternde Weise lebendig werden. Zweimal lässt er den Lebensfilm rückwärtslaufen: „Nicht mal“ führt vom Friedhof zurück zum Mutterleib, und im Langgedicht „Künstlerroman“ beobachtet das lyrische Ich sein auf einer Kassette rückwärts ablaufendes Leben, für das es keine Pause-Taste gibt. Gewalt und Ekel haben keinen geringen Anteil in diesem Gedichtband, sie verbinden sich mit Zartheit und Melancholie. Ocean Vuong ist mit vielen Preisen ausgezeichnet worden. Sein neues Buch kann Lesenden zeitgenössischer Lyrik empfohlen werden.
Karin Blank
rezensiert für den Borromäusverein.
Zeit ist eine Mutter
Ocean Vuong ; aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag
Hanser (2022)
107 Seiten
fest geb.