Totenberg
Der Romancier Thomas Hettche geht in seinem neuen Buch den Verschränkungen zwischen seinem Werk, seiner Biografie und der Geschichte nach. Er tut dies, indem er Begegnungen mit Menschen und Orten sucht, die ihm Aufschluss über seine eigenen Fragestellungen geben können. Wenn er etwa den Filmregisseur Hans-Jürgen Syberberg im mecklenburgischen Nossendorf trifft, der sein Geburtshaus notdürftig erhält, aus dem er mit seinem Vater nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben wurde, dann befasst sich Hettche auch mit seiner eigenen Heimatlosigkeit. Er ist als Sohn einer Sudetendeutschen in Hessen, in der Nähe eines vulkanischen Basaltkegels aufgewachsen, der tatsächlich den Namen Totenberg trägt. Im Speicher seines Elternhauses befand sich eine leere Holzkiste, die für Hettche jedoch die verschlossene Vertreibungsgeschichte seiner Mutter enthält, der er sich nähern will und die ihm doch fremd bleibt. Hettche lotet stets persönliche und gesellschaftliche Bruchstellen aus. Besonders deutlich wird das in seiner Beschreibung des Wohnhauses von Ernst Jünger, der wie kein zweiter deutscher Schriftsteller den Krieg zum Ausgangspunkt seines Denkens gemacht hat. Hettche bedient sich in seinen zehn Stücken einer Mischung aus Reportage, Interview und Essay, die sich packend liest. Man folgt ihm gespannt auf seinen Gedankenwegen, die er sich selbst erst bahnen muss. Das letzte Stück mit dem Titel "Papyrii" führt in eine Sammlung antiker Schriftzeugnisse, anhand deren Hettche den medialen Bruch betrachtet, der sich seiner Meinung nach mit dem Ende des Buchzeitalters vollzieht und eine Verarmung in den Leseerfahrungen und -traditionen zur Folge hat, in der die Auseinandersetzung mit der Literatur verloren geht. Hettches "Totenberg" ist deshalb ein kleines Gegengift für Leser, die von einem Buch intellektuellen Widerstand und Nachhaltigkeit erwarten und einen Text auch ein zweites Mal aufnehmen wollen.
Alois Bierl
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Totenberg
Thomas Hettche
Kiepenheuer & Witsch (2012)
213 S.
fest geb.