Die bessere Geschichte

Tilman Weber wird im Alter von 13 Jahren auf ein reformpädagogisches Internat geschickt, weil sein Vater wieder heiraten möchte. Mangelte es Tilman bisher an Zuwendung und Wärme, fühlt er sich in der Familie des Schulleiter-Ehepaars beachtet. Dort Die bessere Geschichte gewinnt er Selbstvertrauen: "Niemand kannte mich hier. Ich konnte ganz von vorne anfangen. Ich konnte jemand anderes sein. Ich wusste nur noch nicht, wer." Auch die Art des Unterrichts gefällt dem begabten Jungen. Vom Schulleiter und von dessen Frau lässt er sich verführen und zum Drogenkonsum verleiten, was ihn einerseits ein bisschen stolz macht, andererseits nicht wirklich gefällt. Außerdem verliebt er sich in die gleichaltrige Ella, die sich aber in der Gemeinschaft nicht wohlfühlt und sie verlässt. Tilman trauert ihr nach und verlässt wenig später ebenfalls die Schule. Er wird zum erfolgreichen Schriftsteller, der dafür gelobt wird, wie perfekt er sich in die Psyche junger Mädchen einfühlen kann. Als sich Ella Jahrzehnte später an ihn wendet und ihn bittet, sich einer gemeinsamen Anzeige wegen Missbrauchs an ihrer ehemaligen Schule anzuschließen, zögert er. Nur Ella zuliebe macht er mit und lernt auf diese Weise ihre 14-jährige Tochter kennen und lieben. Da er schon lange weiß, dass er beziehungsunfähig ist und nur auf Reize blutjunger Mädchen reagiert, entschließt er sich, sich in ein einsames Holzhaus in Schweden zurückzuziehen, um nicht vom Opfer zum Täter zu werden. - Die Geschichte ist rückblickend geschrieben; Tilmans widersprüchliche Gedanken und Gefühle, die hochkomplexen, wechselseitigen Abhängigkeitsstrukturen werden sehr differenziert und detailliert geschildert, sodass die Leser*innen nachvollziehen können, wie spät ihm erst die manipulative Macht und das fatale Charisma der Schulleiter bewusst wurde. Diese Ambivalenz des Ich-Erzählers Tilman ist faszinierend und lässt den Roman herausragen unter Romanen zum Thema Missbrauch. Der Text zeigt, wie komplex das Krankheitsbild eines Pädophilen ist, wie schwer die Verurteilung nach gewöhnlichen moralischen Standards fällt - und wie schnell es zur Katastrophe kommen kann. Ein Muss für alle Büchereien.

Ileana Beckmann

Ileana Beckmann

rezensiert für den Borromäusverein.

Die bessere Geschichte

Die bessere Geschichte

Anselm Neft
Rowohlt Hundert Augen (2019)

475 S.
fest geb.

MedienNr.: 597461
ISBN 978-3-498-09334-1
9783498093341
ca. 22,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
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