Die weltwichtigste Briefmarke

Ein dramatischer Einstieg: Belgien April 1918, tiefe Nacht. Mindestens zwei Menschen befinden sich am sogenannten Totendraht, einem elektrisch geladenen Zaun, den die deutschen Besatzer errichtet haben, um Belgier daran zu hindern, ins neutrale Holland Die weltwichtigste Briefmarke zu fliehen. Lebensgefährlich ihn zu überqueren, aber offensichtlich notwendig für die Gestalten, die dort regennass und entkräftet genau das versuchen. Ob es ihnen gelingt, bleibt lange offen. Rachel van Kooij entfaltet erst eine äußerst komplexe Geschichte, bevor sie die Eingangsszene ganz am Ende ihrer Erzählung auflöst. Zunächst schildert sie aus unterschiedlichen Erzählperspektiven, wie es überhaupt dazu kam. Belgien, Erster Weltkrieg. Der 12-jährige Thierry steckt voller Wut und unterdrückter Trauer. Sein Vater wurde zur Zwangsarbeit verschickt, seine Mutter kam bei einem Bombenangriff ums Leben. Nun lebt er bei seinem Großvater, der als Lazarettarzt für die Deutschen arbeiten muss und wenig Zeit für den Jungen hat. Im jugendlichen Rachewahn will Thierry den Tod der Mutter ahnden und sein Land von den Deutschen befreien. Er schließt sich einer Gruppe pubertierender Jungen seines Dorfes an, die einen Zug deutscher Soldaten zum Entgleisen bringen wollen. Der Sabotageversuch scheitert und die minderjährigen Jungen werden auf der deutschen Kommandantur menschenunwürdig eingesperrt. Thierry wird beim Verhör grausam und lebensgefährlich misshandelt und verdankt es nur den Beziehungen seines Großvaters, dass er entlassen wird. Um weiteren Bestrafungen zu entgehen, bringt ihn dieser zu einer Großtante in ein entfernt gelegenes Dorf. Als er dort Elsie und Albert kennenlernt, sieht Thierry in Alberts photographischem Gedächtnis gepaart mit minutiösen Zeichenkünsten die Möglichkeit, die militärischen Vorbereitungen und Gerätschaften der deutschen Soldaten zu dokumentieren und an den belgischen Geheimdienst weiterzuleiten. Dabei nutzt er Alberts geistige Einschränkung wissentlich (und naiv) aus, um seine eigene Rachefantasien an den Deutschen auszuüben. Auch hier fliegt die Sache auf und Albert droht die Einweisung in die psychiatrische Anstalt oder gar Schlimmeres. Weshalb sich drei mutige Gestalten im April 1918 zum Totendraht aufmachen … Van Kooij verwebt hier historische Fakten mit einer dramatischen Geschichte und gibt so einen Einblick in die Grausamkeiten und Absurditäten des Krieges. Thierry, der in Kummer und Schmerz alleine gelassen wird und sich in eine vermeintliche Heldenhaftigkeit stürzt, Elsie, deren Gradlinigkeit und Mitmenschlichkeit immer wieder überrascht und überzeugt. Eine Dorfgemeinschaft, die ganz selbstverständlich Menschen in ihre Familien integriert, die anders sind. Van Kooij liefert viel Hintergrundwissen zum Ersten Weltkrieg, erzählt aber letztlich auch losgelöst davon. Ganz selbstverständlich lässt sie in ihrer Geschichte immer wieder Menschen auftreten, die trotz Krieg Mensch bleiben und moralisch handeln. - Insgesamt leider ein wenig zu lang, so dass Leser/-innen einen recht langen Atem benötigen. Trotzdem lohnenswert.

Anna Winkler-Benders

Anna Winkler-Benders

rezensiert für den Borromäusverein.

Die weltwichtigste Briefmarke

Die weltwichtigste Briefmarke

Rachel van Kooij
Jungbrunnen (2022)

336 Seiten
fest geb.

MedienNr.: 613077
ISBN 978-3-7026-5971-4
9783702659714
ca. 20,00 € Preis ohne Gewähr

Borromäus-Altersempfehlung: ab 12
Systematik: K
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