Wir hätten uns alles gesagt
Judith Hermann will über das Schreiben im Leben und über das Leben durch das Schreiben erzählen und verfasst eine literarisch anspruchsvolle Annäherung an ihre Person als Autorin. Über Biographisches gibt sie scheinbar Einblicke in intimste Nischen ihres Privatlebens; doch auch hier verschwimmen Persönliches und Künstlerisches in der von ihr ausgebreiteten Weise, in der sie vorstellt, dass Erlebtes, einmal niedergeschrieben, seine Relevanz, vielleicht sogar seinen Wahrheitsgehalt, der in der Literatur aufgegangen ist, verliert. Streckenweise wähnen sich die Leser:innen als Voyeure einer ungewöhnlichen Lebensoffenbarung. Judith, die Tochter eines depressiven Vaters, das Kind, das in schwer belastetem Umfeld aufwächst, Freunde begleitet, verliert, begleitet wird und sich jahrelang einer Analyse unterzieht. Da, wo man denkt, die Frau nun unmaskiert vor sich zu sehen, da resümiert die Schriftstellerin über das Schreiben und stellt das Erzählte in Frage oder macht es zur Frage ihres Erzählens. Bezugnehmend zu ihren Romanen gelingt es, Verbindungen zwischen Lebensetappen, Werk und Privatperson herzustellen und neu zu bewerten. Das ist enttarnend und zeigt den Menschen hinter der Künstlerin - aber Judith Hermann lässt es im Unklaren, ob das eine Täuschung ist oder nicht. So hätte die Autorin "alles gesagt". Literarischer Grenzgang über eine Autorin, die in ihren Werken in Klarheit formuliert, was im Leben schwer fassbar ist. Sehr interessante Einblicke in Leben und Werk von Judith Hermann.
Christine Vornehm
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Wir hätten uns alles gesagt
Judith Hermann
S. Fischer (2023)
186 Seiten
fest geb.