Gerron
Der Schauspieler und Regisseur Kurt Gerron wird Anfang 1944 mit seiner Frau Olga nach Theresienstadt deportiert. Dort wird ihm klar, dass er die Nationalsozialisten unterschätzt und die Möglichkeit zur rechtzeitigen Ausreise nicht angenommen hatte, weil er sich als berühmter Schauspieler sicher fühlte. Vom Lagerkommandanten erhält er den Befehl, einen Propagandafilm über das Lager zu drehen. Wenn er den Film dreht, kann er sich, Olga und andere vielleicht retten, weil der Krieg bald vorüber sein wird. Aber kann er es verantworten, angesichts des Lagerelends einen Film darüber zu drehen, wie schön es die Juden angeblich in ihrem Ghetto haben? Während dieses inneren Kampfes zieht sein Leben an ihm vorüber: aufgewachsen in Berlin in einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie, will er nach dem Abitur Medizin studieren, muss aber als Frontsoldat in den Ersten Weltkrieg ziehen. Er wird schwer verwundet und zeugungsunfähig. Nach dem Krieg hat er schnell Erfolg als Schauspieler und Kabarettist und wird so berühmt, dass er sich auch nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten nicht in Gefahr sieht. Mithilfe des Films gelingt es ihm, den Weitertransport in die Vernichtungslager für viele hinauszuzögern. Doch kurz vor Kriegsende werden auch Gerron und seine Frau nach Auschwitz geschickt und ermordet. - Der Schweizer Autor hat nach seinem grandiosen Roman "Melnitz" wieder einen herausragenden Roman vorgelegt. Nach historischen Dokumenten zeichnet er das Leben Gerrons auf, wobei der Gewissenskonflikt im Zentrum steht, dazu Reflexionen über Kriegserlebnisse, Erinnerungen an die Zeit seiner großen Erfolge während seiner Zusammenarbeit mit Brecht und Berichte über das Leben im Lager. "Solang ich meine Erinnerungen habe, kann ich mich zusammensetzen, kann herausfinden, wer ich bin". Ein beklemmendes und erschütterndes Buch. Eindringlich und oft sarkastisch erzählt. Sehr empfohlen.
Ileana Beckmann
rezensiert für den Borromäusverein.
Gerron
Charles Lewinsky
Nagel & Kimche (2011)
539 S. : Ill.
fest geb.