Der Halbbart
Sebi ist ein einfacher Bub in der Schweiz um 1300 und wächst zunächst als Halbwaise mit seinen zwei älteren Brüdern Geni und Poli auf, bevor er in jungen Jahren auch noch seine Mutter verliert. Ein Fremder, der durch sein versehrtes Äußeres das Misstrauen des Dorfes schürt und wegen seines zum Teil verbrannt-vernarbten Gesichts der Halbbart genannt wird, erzählt dem unbedarften Sebi bruchstückhaft und nach und nach von seiner leidvollen Geschichte. In die Geschicke des Dorfes ist er immer wieder verwickelt und um ihn ranken sich Schicksalsschläge, Intrigen und gewalttätige Auseinandersetzungen. Hauptperson und Erzähler aber bleibt Sebi, der Feinfühlige, der sich schwertut, seinen Platz in der Gesellschaft da zu finden, wo Familienangehörige ihn gerne sähen. Die Obhut in einem Kloster endet traumatisch, unter falschem Namen wird er bei einem Dorfschmied aufgenommen, wo er in der Tochter eine neue liebevolle Geschwisterlichkeit findet, doch all das Entlastende bleibt ohne Bestand. Auseinandersetzungen der Habsburger mit den Wittelsbachern, die sich im Hintergrund abspielen, haben Plünderungen und Gemetzel zur Folge. Alles Quälende erträgt Sebi in Gottesfurcht, die ihn aber nicht davon abhält, sich eigene Gedanken zu machen und seinen Weg zu suchen. Dieser führt ihn schließlich zum Teufels-Anneli, bei der er als Geschichtenerzähler in die Lehre geht. Und so ist der Roman auch aufgebaut, als eine große Erzählung des Buben Eusebius, in einem kindlich bestechenden, klaren Ton, der meinen lässt, man höre dem langsam Heranwachsenden zu. Es entsteht eine mittelalterliche Welt mit all ihren Nöten, Glaubenssätzen, Menschen, die tief in die Zeit und den Alltag eintauchen lässt. Dass aufgrund dieser fiktiven Geschichtsschreibung viel über den Menschen erzählt wird, ist nur eine Größe des Romans. Eine große Erzählung.
Christine Vornehm
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Der Halbbart
Charles Lewinsky
Diogenes (2020)
679 Seiten
fest geb.