zu lieben
Eine neue Gattung hält Einzug in die Literatur: der Adoptionsroman. Neben Jackie Thomae („Glück“) hat nun Ulrike Draesner einen Kinderwunschroman vorgelegt. Aber ein Roman ist es im Grunde nur bedingt, denn das Wort „Roman“ auf dem Cover
ist durchgestrichen, und im Disclaimer am Ende des Buches heißt es, dass dessen Figuren so frei erfunden sind, wie man es sich nur denken kann. Gleichwohl hat die Schriftstellerin bekräftigt, dass es sich um ihre eigene Geschichte handelt, dass es um sie als Mutter und um Mary geht, die sie und ihr damaliger Mann als dreijähriges Mädchen in Sri Lanka adoptiert haben. „zu lieben“ erzählt, wie es zu der Adoption gekommen ist und wie sie beginnt: als langwierige, von Gerichts- und Amtsgängen, von verborgenen Zweifeln umstellte Warteperiode, in Deutschland ebenso wie in Colombo. Dass sich Eltern und Kind erst einmal näherkommen müssen, wird in hochfliegenden Momenten und mit rasanten Abstürzen geschildert. Und überhaupt gelingt es der Autorin, den komplexen Prozess von Elternwerden und von Kindschaft in einer für beide – gerade auch in Deutschland – fremdartigen Umgebung beherzt, selbstkritisch, entdeckungsfreudig vorzustellen. „zu lieben“ enthält kafkaeske, heitere und niederschmetternde Episoden der Familienkonstellation. Mary, die von ihren neuen Eltern als Tochter für eine gemeinsame Zukunft aus einem geschlossenen Kinderheim abgeholt wird, erweist sich als geschickt, mutig und klug in vielerlei Beziehung, eine „Überleberin“ und Kämpferin, die ihre Eltern auf deren Geduld testet. Ganz wunderbar, mit dem „Wunderwort“ ‚herzen‘ wird, in der Geschichte von der „übermütigen Hand“, die erste Berührung von Mutter und Tochter beschrieben. – Ein zu Herzen gehendes Mutter-Kind-Buch, eine beherzte Geschichte von erzählter Mutterschaft, ein glückskantiges Buch über den Mut zu lieben.
Michael Braun
rezensiert für den Borromäusverein.

zu lieben
Ulrike Draesner
Penguin Verlag (2024)
345 Seiten
fest geb.