Kurz vor dem Vergessen
Die Doktorandin Émilie verbringt einen mehrmonatigen Studienaufenthalt auf einer einsamen Hebrideninsel, auf der der berühmte Krimiautor Galwin Donnell, Gegenstand ihrer Forschung, zwanzig Jahre lang gelebt hat, bevor er spurlos verschwand. Als ihr
Freund und Geliebter Franck, ein Krankenpfleger, sie dort besucht, wo sie eine Fachkonferenz über Donnell organisiert, fühlt er sich überflüssig, denn Émilie hat keine Zeit für ihn. Die traditionellen Rollenbilder sind hier umgekehrt: Während Franck von Familie und kleinbürgerlicher Stabilität träumt, ist Émilies Kind ihre Doktorarbeit und Erfolg in der Wissenschaft. Sie weiß nicht, wie sie Beruf und Liebe vereinbaren kann, Franck hat Selbstzweifel, dass er ihr nicht gewachsen ist. Er ist in diesem Roman der sympathische, traurige Loser-Held, während Émilie versessen auf eine akademische Karriere ist. Schwerpunkt der Geschichte ist jedoch die Atmosphäre auf der nebligen, regnerischen Insel mit den schrulligen Tagungsteilnehmern, die herausfinden wollen, was aus dem Schriftsteller geworden ist, ob er Selbstmord begangen, einfach verschwunden oder ermordet worden ist. Eine herrliche Persiflage des Wissenschaftsbetriebs und von Literatur im Allgemeinen mit geistreichen und witzigen Bemerkungen über Männer und Beziehungen, ein Mix aus akademischer Milieustudie und Krimi.
Ileana Beckmann
rezensiert für den Borromäusverein.

Kurz vor dem Vergessen
Alice Zeniter ; aus dem Französischen von Yvonne Eglinger
Berlin Verlag (2021)
319 Seiten
fest geb.