Lavinia
"Wer ergründen will, muss herab", so der Schlusssatz von "Lavinia", der zugleich auch am Anfang steht: Die Protagonistin und Ich-Erzählerin Lavinia steht auf dem Balkon ihrer New-Yorker Hochhauswohnung und stürzt sich in die Tiefen ihrer Erinnerung.
Es gibt keinen wirklichen "roten Faden", vielmehr verschwommene Fetzen, immer wieder unterbrochen von einer Empörung über die aktuelle weltpolitische Lage, die in drastischen Metaphern ihren Ausdruck findet. Das allein mag schon nicht jedem gefallen, aber auch die eigentliche Geschichte scheint sich hinter Andeutungen und Bildern zu verstecken, hinter einem veritablen Sprachrausch mit ständig wechselnden Zeiten und Orten. Den Leser/-innen wird es nicht leicht gemacht. Immer wieder fragt man sich: Was lese ich da eigentlich? Und ja, Lavinias Geschichte ist verstörend. Sie gibt Zeugnis von ihrer Kindheit im Nachkriegsdeutschland, der Schuld der Elterngeneration, der Liebe zu ihrer Großmutter, der peinvollen Pubertät, dem erfahrenen Missbrauch, der Gewalt, den verlorenen Lieben. "Ach. Wem zu Lieb ich bin" ist ein ganz wesentlicher Ausdruck des Schmerzes und der Sehnsucht, der den ganzen Roman durchzieht. - Dagmar Leupold, studierte Germanistin und Philologin, schreibt virtuos, sprachspielerisch und sprachphilosophisch. Mir persönlich scheint dieser Roman aber insgesamt ziemlich anstrengend und, offen gesagt, zu gewollt kunstvoll. Literarisch Anspruchsvolle mag er hingegen begeistern.
Barbara Nüsgen-Schäfer
rezensiert für den Borromäusverein.

Lavinia
Dagmar Leupold
Jung und Jung (2019)
197 Seiten
fest geb.