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Lesen 3.0: Wie wir in Zukunft lesen

Ist Gedruckt schon von gestern?

Mit Wolfgang Tischers Expeditionsbericht zu einer Tagung über „Buchkultur im digitalen Zeitalter“ starten wir eine Reihe von Beiträgen, die sich in loser Folge mit der Zukunft des Lesens beschäftigen. Wie wollen (und müssen) wir in Zukunft lesen – und was bedeutet das für uns als Leser/innen, was bedeutet es für die Büchereien und die Buchkultur? Diesem Thema widmet sich im Herbst außerdem eine Ausgabe der BiblioTheke.
Viel Vergnügen bei der Lektüre und schreiben Sie uns wie es Ihnen gefallen hat. Ihre Ulrike Fink, Redaktion

von Wolfgang Tischer
25. März 2015

Die Frage nach der Zukunft des Lesens und der Bücher kennt viele Antworten. Welche Texte werden wir künftig lesen? Längere oder kürzere? Auf welchen Medien werden wir lesen? Papier oder Elektronik? Was bedeutet die Frage und ihre Antworten für die verschiedenen Akteure auf dem Buchmarkt: Leser, Autoren, Verlage, Buchhandlungen und Bibliotheken?

„Gedruckt war gestern.“ lautete der Titel einer Tagung, zu der die Bundesakademie für kulturelle Bildung im November 2014 nach Wolfenbüttel eingeladen hatte. Normalerweise findet sich nach solchen Titeln immer ein Fragezeichen. Doch Olaf Kutzmutz, Programmleiter Literatur an der Akademie, wählte Florian Klauer unsplash bewusst den provokativen Punkt. Generell sollte es um die „Buchkultur im digitalen Zeitalter“ gehen. Gewünscht war ein breites Spektrum an Antworten – so es sie gibt.

Die Geister der Vergangenheit

Für Kulturpessimisten besteht immer Grund zur Sorge. Wo bleibt das Rascheln der Seiten? Wo der Geruch der Bücher? Gelingt es jungen Menschen zwischen WhatsApp und Facebook überhaupt noch, sich auf einen längeren Text zu konzentrieren? Mit Michael Schikowski trat ein solcher Vertreter der Untergangsstimmung gleich am Beginn der Tagung ans Rednerpult. Schikowski preist das gedruckte Buch und die Schönheit eines Diogenes-Covers. Die sogenannten sozialen Medien wie Facebook und Co. sieht er als Vorboten des Untergangs. Wahres Wissen erlangt man nur im Umgang mit Gedrucktem, keinesfalls aber aus dem Internet. Den Verfall der Wissenskultur beobachte er an seinen eigenen Studenten. Mit bestimmendem Ton trat Schikowski als Bildungsdino auf, der dieser Früher-war-alles-besser-Welt angehört. Seine Rolle behielt er bei, wenngleich sein Pessimismus sich nicht über die Tagung legte.

Vielleicht war aber auch sein Vortrag vom Veranstalter gekonnt an den Anfang platziert, um die Geister der Vergangenheit noch einmal über die Bühne ziehen zu lassen, bevor man sich der Zukunft oder vielmehr der Gegenwart zuwandte.

E-Book-Strategien der Verlage

Die brach dann auch unter dem Titel „Business Development und Digitale Transformation in einem großen Publikumsverlag“ über die Tagungsteilnehmer/innen herein. Michael Döschner-Apostolidis ist seit einem Jahr Verlagsleiter für elektronisches Publizieren bei Droemer Knaur. Davor war er bei Microsoft und davor bei Langenscheidt und dem Deutschen Taschenbuchverlag. Gerade den Verlagen wird immer wieder nachgesagt, sie hingen noch zu sehr am gedruckten Buch und alten Vertriebsstrukturen und Geschäftsmodellen fest. Wenn sie sich der Digitalisierung nicht stellten, drohe ihr Untergang.

Dass jedoch die Verlage alles andere als blauäugig agieren, musste Döschner-Apostolidis nicht sagen, das strahlte sein ganzer Vortrag aus. Droemer Knaur gehört sicherlich nicht zu den literarischen Verlagen. Hier wird überwiegend Unterhaltungsliteratur verlegt mit Spitzenautoren wie Sebastian Fitzek und Nina George. Doch gerade dieser Markt wird seit einigen Jahren von den so genannten Self-Publishern attackiert, z.B. von Poppy J. Anderson und Nika Lubitsch. Ihre Autorennamen kennt man in Buchhandlungen und Bibliotheken kaum, da sie via Amazon und im E-Book-Format Tausende von Leser/innen begeistern. Ihre elektronischen Bücher sind auf den Bestsellerlisten des Online-Händlers weit vor denen der Verlage platziert.

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Diese Autoren und Autorinnen veröffentlichen ohne Verlag. Es sind nicht mehr die gescheiterten Schriftsteller von früher, die sich für diesen Weg entscheiden, sondern Autoren, die sich sehr bewusst gegen einen Verlag entscheiden. Ihre Bücher kosten den Leser nur 3 bis 4 Euro, aber bringen pro Verkauf den Autoren dennoch so viel ein wie eine Verlagsveröffentlichung. Die Leser freut dies, denn so bekommen sie günstigen Lesestoff für ihre E-Reader. Das setzt wiederum die Verlage unter Zugzwang, liegen doch ihre E-Book-Preise meist nur 10 bis 20 Prozent unter denen der gedruckten Ausgaben.

Speziell die Unterhaltungsverlage müssen sich dieser Konkurrenz stellen. Natürlich kann der Preis des neuen Fitzek-Thrillers nicht an die Preise der Self-Publisher angepasst werden, doch Michael Döschner-Apostolidis demonstrierte alternative Strategien, um Self-Publisher an den Verlag zu binden, anstatt mit ihm zu konkurrieren. Schon seit Jahren betreibt Droemer Knaur erfolgreich das Angebot Neobooks. Beworben wird es als »Self-Publishing mit Verlagsanschluss«. Droemer hilft als sogenannter Distributor den Self-Publishern, ihre Titel in möglichst vielen Online-Shops unterzubringen. Hierfür behält der Verlag eine kleine Provision ein. Außerdem nutzt man Neobooks als Talentpool, indem regelmäßig vielversprechende Titel vom Verlagslektorat ausgewählt werden, um als gedrucktes Knaur-Taschenbuch auch in die Buchhandlungen zu gelangen.

Weg mit den Vorurteilen!

So sehr Droemer mit seinen E-Books auf Unterhaltung und Schnäppchenjäger zielt, so sehr zeigte Nikola Richter, dass es auch anders geht. Mit mikrotext.de hat sie einen reinen Digitalverlag gegründet. Sie ist per Skype in Wolfenbüttel zugeschaltet und berichtet direkt aus ihrem Wohnzimmer. Es wird klar, dass der Verlag im Kern ein Ein-Frau-Unternehmen ist und viele Autoren aus dem erweiterten Bekanntenkreis für den Verlag akquiriert werden. Richter räumt mit einigen Vorurteilen gegen das E-Book auf und zeigt, dass durch diese Form auch ganz neue Texte Lesern zugänglich gemacht werden. Mit den als E-Book erschienenen Facebook-Statusmeldungen des Syrers Aboud Saeed wurde selbst das Feuilleton auf den kleinen Digitalverlag aufmerksam. Darüber hinaus hilft es, dass Mikrotext auch bekanntere Autoren wir Franzobel oder Thomas Klupp im Programm hat.

Überhaupt: Die Vorurteile gegen E-Books und E-Reader! Es gibt einen schönen Text des neuseeländischen Autors Anthony McCarten, der sich ausmalt, was wohl wäre, wenn Gutenberg seinerzeit das iPad und Steve Jobs von Apple erst in diesen Tagen das Papierbuch erfunden hätte (pdf von Anthony McCarten und ein You-Tube Video). Ein durchaus interessantes Gedankenspiel. Würden wir dann vielleicht alle sagen, dass sich diese unpraktischen, schweren Papierklötze mit diesem umständlichen »Umblättern« und der fehlenden Suchfunktion nie durchsetzen werden?

Mit einigen Vorurteilen räumte dann auch Dr. Franziska Kretzschmar von der Johannes Gutenberg Universität Mainz auf. Empirisch u. a. mit Eyetrackern, die jede Augenbewegung beim Lesen festhalten, wurde untersucht, wie Menschen in Büchern, auf Tablets und E-Readern lesen. Es zeigte sich, das insbesondere auf Tablets das Lesen auch von älteren Menschen als sehr angenehm empfunden wurde. Der Grund liegt offenbar im beleuchteten Display. Die rein fürs Lesen konzipierten E-Reader schnitten in der Untersuchung offenbar nur deswegen schlechter ab, weil sie zum Zeitpunkt der Studie noch unbeleuchtete Displays hatten. Auch das hat sich zwischenzeitlich geändert.

Im Tagungspublikum zeigte sich eine erstaunliche Offenheit gegenüber den Veränderungen. Da saßen keine Kulturpessimisten, sondern Leute, die sich über die aktuellen Entwicklungen informieren wollten. Da saßen unter anderem auch Buchhändler und Autoren.

gratisography.com

Neue Publikationsformen

Deutlicher in Richtung Zukunft führte der Vortrag von Stephan Porombka, Professor für Texttheorie und Textgestaltung an der Universität der Künste in Berlin. Er zeigte am Beispiel der Autobiografie des Rappers Jay-Z, wie das Erzählen von Geschichten vollkommen von einem Trägermedium losgelöst wird und wie die Suche nach der Geschichte selbst zu neuen Geschichten wird. So wurden die Seiten der Autobiografie und deren Text in den USA, aber auch zum Teil weltweit gestreut und auf Autos und Hausdächern, auf Porzellantellern und Jacken gedruckt. Selbst am Boden eines Swimmingpools fand sich Text des Buches. Täglich wurden neue Seiten versteckt wie bei einer riesigen Schnitzeljagd. Das Buch wurde so von vielen Leuten gemeinsam entdeckt, die die Fundstellen auch über Microsofts Kartendienst Bing mitverfolgen konnten.

Eine gewaltige Marketingaktion, keine Frage. Doch für Porombka zeigt sich darin das ungeheure Potenzial, Geschichten ganz anders zu erzählen und die Suche nach den Seiten und ihre Dokumentation im Web wiederum selbst zu Sub-Plots und Nebengeschichten zu machen. Die Geschichte wird losgelöst vom Trägermedium entwickelt, das Erzählen zum transmedialen Erzählen. Jeder der »Leser« – sofern man sie noch so nennen mag – wird selbst Teil der Geschichte. Allerdings fand die ganze Aktion nicht in der Zukunft, sondern bereits 2010 statt. Nicht zuletzt stand am Ende die Veröffentlichung des gedruckten Buches von Jay-Z.

Und die Bibliotheken?

Bibliothekarisch wurde das Thema Buchkultur durch Thomas Stäcker beleuchtet, dem stellvertretenden Direktor der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Er widmete sich dem Aspekt der Digitalisierung von historischen Büchern. So sehr die unterschiedlichsten Variationen jarmoluk-pixabay von Buchkultur im digitalen Zeitalter angesprochen wurden, so lückenhaft musste dennoch vieles bleiben. Das Feld ist zu groß, als dass man es an zwei halben Tagen komplett abdecken kann.
 
Was die Veränderungen für den Buchhandel und für die Bibliotheken bedeutet, das wurde bestenfalls am Rande erwähnt. Was ist eine Buchhandlung, was ist eine Bibliothek in den Zeiten der zunehmenden Digitalisierung? Natürlich werden gedruckte Bücher nicht aussterben. Doch wie geht man mit dem steigenden Anteil der digitalen Werke um? Schon jetzt wird heftig gestritten, wenn es um Lizenzmodelle für Bibliotheken geht und um die Frage, ob das Prinzip des Ausleihens von Büchern digital abbildbar ist. Hinzu kommen Flatrate-Modelle kommerzieller Anbieter, die ebenfalls den Zugang zu unbegrenzt großen Beständen von Digitalbüchern versprechen. Gleichzeitig ist es einer der großen Wünsche der Self-Publisher, dass sie aus dem Internet heraustreten und in Buchhandlungen und Bibliotheken vor Ort zu finden sind. Dies belegt, dass die Präsenz in den Buchregalen nach wie vor als überaus wichtig empfunden wird. Online und digital ist nicht genug.

Demokratisierung der Buchkultur?

Der ungebrochene Boom und Erfolg des Self-Publishing belegt weiterhin, dass die hin und wieder ironisch getroffene Feststellung, dass vielleicht mehr Menschen Bücher schreiben als lesen, vielleicht näher an der Realität dran ist als vermutet. So belegte unlängst eine Studie des Branchenverbandes BITKOM, dass die Hälfte der Leser von selbstverlegten Büchern selbst Self-Publisher sind. Obwohl die Frage nach der inhaltlichen Qualität nicht ganz verdrängt werden sollte, ist durch die Digitalisierung des Lesens dennoch so etwas wie eine Demokratisierung eingetreten. Der Leser wird zum Autor – und umgekehrt.

Vielleicht müssen diesem Aspekt künftig auch Bibliotheken und Buchhandlungen verstärkt aufgreifen. Bücher sind nicht mehr nur die Werke, die einen nicht immer transparenten Auswahl- und Entscheidungsprozess in den Verlagen durchlaufen und die schließlich in den Regalen landen, um auf ihre Leser zu warten. Es gibt bereits Buchhandlungen, die erfolgreich mit Self-Publishern der Region zusammenarbeiten und deren Bücher in Lesungen vorstellen. Dabei ist bei den Zuhörern das Interesse groß, wie man mit und ohne Verlag selbst schreibt und veröffentlicht.