Der Mann ohne Schatten
Kann man sich in einen Mann verlieben, der nach 70 Sekunden vergessen hat, wer man ist? Mit 24 Jahren kommt die junge Doktorandin Margot Sharpe an das neuropsychologische Gedächtnislabor des berühmten Professors Milton Ferris nach Pennsylvania. Sie
wird dort Elihu Hoopes vorgestellt, der fünfzehn Monate zuvor an einer schweren Enzephalitis erkrankt ist und seitdem ein gestörtes Erinnerungsvermögen hat. Margot ist fasziniert von dem kultivierten gebildeten Mann. Vor seiner Erkrankung war er in einer Investmentfirma tätig, hat fotografiert und gemalt. Über einen Zeitraum von 30 Jahren wird Margot den Patienten testen und schließlich das Labor selbst führen. Schon früh hat sie Zweifel an der Richtigkeit ihres Tuns, Elihu als Testperson zu missbrauchen. Doch sie lebt ausschließlich für die Wissenschaft und geht eine Affäre mit ihrem Förderer und Doktorvater ein. Als er sie verlässt, verliebt sie sich in Elihu. Joyce Carol Oates stellt in ihrem faszinierenden Roman existenzielle Fragen nach der Bedeutung von Vergangenheit und Erinnerung für die Gegenwart. Sie macht deutlich, wie nah Normalität und Andersartigkeit beieinander liegen. Sie hat ihre Geschichte an den Fall eines tatsächlichen Amnesiepatienten angelehnt. Für literarisch und wissenschaftlich interessierte Leser. (Übers.: Silvia Morawetz)
Susanne Emschermann
rezensiert für den Borromäusverein.

Der Mann ohne Schatten
Joyce Carol Oates
Fischer (2018)
378 S.
fest geb.