Das Unerwartete

Dass die Welt immer enger wird, fürchtet die Maus in einer von Kafkas Parabeln, und dass am Ende die Katze wartet, die sie frisst. Die US-Schriftstellerin Joyce Carol Oates ist eine Meisterin im Verkleinern und Verengen. Ihre Szenen sind aus dem Alltag, Das Unerwartete die Probleme ihrer Figuren scheinbar überschaubar und ihre Sprache und die Erzählweise glasklar. Ein Ehepaar, ein Philologie-Professor im Ruhestand mit seiner Frau, fliegt in eine norditalienische Stadt, eine Frau wartet in einem Café auf ihre Freundin, eine andere sieht beim Frühstück im Hotelinnenhof einen Mann mit blutendem Kopf im Fenster über ihr, eine renommierte Schriftstellerin kehrt in ihren Heimatort zurück. Es passiert im Grunde nichts schrecklich Schlimmes, nur dass die Figuren die Kontrolle über die Situationen, die sie sich selbst ausgesucht haben, verlieren. Und das ist schwerwiegend genug, um sich mögliche Folgen auszumalen: Gegenwelten, existentielle Ängste, unangenehme Fantasien kommen auf - die gezähmte Katze Kafkas. Und die Leser/-innen brauchen keine Sorge zu haben: nirgends ein dämonisches Finale. Das Ehepaar hat sich von seiner sentimentalen Erinnerung an die besuchte Stadt entfremdet - und voneinander auch. Im Café verschwindet die Freundin; die Kopfwunde wird verarztet, ein Kuss folgt; und die Schriftstellerin, in der wir getrost die Autorin erkennen können, verlässt die Lesung in der Bibliothek ihrer Kindheitsjahre mit einem mulmigen Gefühl, aber einem smarten Begleiter. Anziehende und nachdenkliche Lektüre, aus dem amerikanischen Englisch in ein geschmeidiges Deutsch übersetzt von Silvia Morawetz. Sehr empfehlenswert.

Michael Braun

Michael Braun

rezensiert für den Borromäusverein.

Das Unerwartete

Das Unerwartete

Joyce Carol Oates ; aus dem amerikanischen Englisch von Silvia Morawetz
Ecco (2022)

381 Seiten
fest geb.

MedienNr.: 613001
ISBN 978-3-7530-0067-1
9783753000671
ca. 24,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
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