Der Schlächter
Der schüchterne und unsichere Arzt Silas Weir ist fasziniert von der Chirurgie, insbesondere im Zusammenhang mit der Gynäkopsychiatrie, nachdem er der Direktor der Heilanstalt für weibliche Geisteskranke geworden ist. Als geisteskrank werden zu
der Zeit Frauen angesehen, die sich nicht unterordnen, sondern sich “hysterisch” gebärden. Beim Versuch, Geburtszysten zu heilen, experimentiert Weir mit Insassinnen und Sklavinnen, anfangs ohne Betäubung, wobei er nur ein leises schlechtes Gewissen hat, denn die Patientinnen sind für ihn nur “Material”. Er ist überzeugt, dass seine meist grausamen Operationen mit vielen Todesopfern im Namen des Fortschritts der Wissenschaft gerechtfertigt sind. Er erfindet verschiedene Objekte, die z.T. noch heute bekannt sind, wie den “Ruhestuhl”, auf den die Patientin gefesselt und mit Bandagen vor Augen und Mund wochenlang ruhig gehalten wird, und die Zwangsjacke. Eine weitere Erfindung ist die “Hydrotherapie”, bei der die Patientin festgebunden im lauwarmen Wasser liegt – und manchmal ertrinkt. Sein liebstes Versuchsobjekt ist das Albino-Mädchen Brigit, von der er zunehmend besessen ist. Ihre Geschichte hat sie später aufgezeichnet: “Es ist wahr: Ich verdanke Silas Aloysius Weir mein Leben. Wahr ist auch: Silas Aloysius Weir war ein Schlächter, dem Mädchen & Frauen zum Opfer gefallen sind.” Bei ihr kann er seinen Erfolg in der Heilung der Fistel nachweisen. Doch am Ende gibt es einen Aufstand der Frauen, der in einem Brand und dem Tod des Arztes endet. Das Buch setzt sich zusammen aus Silas Weirs fiktiver "Chronik eines Arztlebens", den Erinnerungen der jungen Brigit, Weirs liebstem Versuchsobjekt, und den Aufzeichnungen von Weirs Sohn Jonathan. Weir ist kein abgrundtiefes Scheusal, sondern ein "unsicherer, autoritätshöriger Mensch", der die frauenverachtenden Praktiken der Zeit nicht hinterfragt. Die bedeutende Literatin Joyce Carol Oates verschmilzt im Buch den amerikanischen Arzt J. Marion Sims und den "Vater der Nervenheilkunde" Silas Weir Mitchell zu einer Figur. Oates schont die Leserschaft nicht, wenn sie auf drastische Weise Amputationen, Gestank, Gewalt und die vielfältigen Formen des psychischen Missbrauchs schildert, denen sich die Frauen in den Anstalten ausgesetzt sahen und denen Oates hier ein Denkmal setzt. – Ein herausragender historischer Roman für anspruchsvolle Leser:innen, jedoch nichts für schwache Nerven.
Ileana Beckmann
rezensiert für den Borromäusverein.
Der Schlächter
Joyce Carol Oates ; aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz
Blessing (2025)
445 Seiten
fest geb.